Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Fenster dort war es. Am nächsten Morgen habe ich sie zerschmettert auf der Erde gefunden. Niemand hatteetwas gehört. Diese Klöster haben dicke Mauern, bombensichere Mauern, damit man weder das Klagen noch die Freuden der Welt hört. Schau mal, dieses Fenster dort.«
»Das ist mein Fenster.«
»Genau! Weil es die Zelle neben der von Madre Leonora ist. Dort landen alle ihre Schützlinge.«
»Aber wie hat sie das gemacht? Das Fenster ist doch vergittert.«
»Nein, das haben sie erst hinterher angebracht. Wie man in Catania sagt: Die Statue der heiligen Agate wurde erst gestohlen und dann eingezäunt … Und deshalb, wie gesagt, hat es der Arzt durchsetzen können, daß du ein wenig Abwechslung und frische Luft bekommst. Der ist nämlich ein feiner Mann mit Herz und Verstand, der sich nicht nur in der Medizin, sondern auch mit dem Gesetz auskennt und den Nonnen diesen Selbstmord, den hier außer mir bereits alle vergessen hatten, wieder in Erinnerung gerufen hat. Natürlich haben sie ihn jetzt davongejagt. Doch er, ein rechtgläubiger Mann, ist ganz ruhig gegangen. Ich empfehle mich, Principessa. Die Eiche sagt mir, daß das Heer im Anmarsch ist, und wir gehen nun besser getrennte Wege.«
Die Eiche sagt mir … Und es stimmte wirklich, daß er nur den Kopf an den knorrigen Stamm zu legen brauchte, um die Bewegungen im gesamten Wald zu spüren. Ich versuchte es ebenfalls, aber mit mir redete sie nicht. Und doch leuchteten nach wenigen Minuten weiß die Gewänder der Novizinnen zwischen den niedrigen Büschen. Sie kamen auf mich zu, um dann so zu tun, als wären sie überrascht, und unter übertrieben spitzen Schreien und Gelächter erschrocken die Flucht zu ergreifen. Die Eiche redete nicht mit mir, aber ich hatte gut daran getan, es mit Mimmo zu wagen. Kommt nur und lacht, soviel ihrwollt, ich weiß jetzt, wie ich euch diesen Spaß verderben kann. Nutzt die Zeit, solange die Posse dauert, denn wie Mimmo immer sagt: Eine Posse, bei der man zuviel lacht, endet immer mit Verdruß.
12
Um mich aus dieser Lage zu befreien, mußte ich sterben. Und zwar genau so, wie Mimmo es mir eingeflüstert hatte: Ich mußte mich aus dem Fenster stürzen. Aber aus welchem? Vor meinem waren ja zum Glück Gitterstäbe angebracht, denn es wäre zu hoch gewesen, und unten gab es weder Geranienbeete noch irgendwelche Bäume oder eine Hecke, die dafür gesorgt hätten, daß ich mir nicht alle Knochen brach. Mir war mein Körper lieb und teuer, der mir so viele Freuden bereitet hatte.
Drei Tage lang habe ich gesucht und kein einziges Fenster ohne diese verhaßten Gitterstäbe gefunden. Bis ich mich entmutigt ins Gras setzte und den Kopf an den verwitterten Brunnen lehnte. Hierher kam die Schafherde, wie Mimmo sie nannte, nie. Warum bloß? Genau, warum kamen sie nie zu dem alten Brunnen, und wenn eine von ihnen ihn nur von weitem sah, schlug sie dreimal schnell das Kreuz und wandte den Blick ab? Ihre Sache. Mir war es gerade recht. So hatte ich wenigstens einen Ort, an dem ich in aller Ruhe in der Sonne nachdenken konnte. In meiner Zelle konnte ich inzwischen weder denken noch lesen. Wie sollte ich sterben, wenn alle Fenster vergittert waren? Wie konnte ich vollkommen tot erscheinen, ohne wirklich in den Armen des verhaßten Sensenmannes zu landen?
»Hat mich die Principessa zufällig gerufen? Wenn ichmir erlauben darf, solltet Ihr Euch in der Aprilsonne nicht den Verlockungen des Schlafes hingeben. Der April verführt mit seiner trügerischen Wärme. Er streichelt dich mit sicheren Händen, überläßt dich dann aber schnell der giftigen Feuchtigkeit, sobald die Schatten länger werden.«
»Wer hat dir gesagt, daß ich dich suche, die Eiche?«
»Wie immer, und sie hatte recht. Auch jetzt ruft mich Euer Blick, Principessa, aber er weiß nicht, ob er einem Fremden trauen darf. Denn auch wenn ich Euch habe aufwachsen sehen wie eine gesunde, kräftige Pflanze, sind wir einander doch immer noch fremd, nicht wahr?«
»Weißt du, weshalb die Schwestern nie zu diesem Brunnen kommen und sich bei seinem Anblick bekreuzigen, als sei ihnen der Leibhaftige erschienen?«
»Ich sehe, daß sich Eure Zunge gelöst hat, seit man Euch unter Quarantäne gestellt hat, was, Principessa?«
»Und nicht nur die Zunge, Mimmo! Auch mein Verstand. Nur daß …«
»Was? Der Brunnen? Denkst du über den Brunnen nach? Halte dich fern von ihm, Kindchen!«
»Und warum?«
»Weil er gequälte Seelen anzieht. Ich allein habe schon zwei gezählt, die seinem Ruf
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