Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
ungewöhnliches Spielzeug.
Voller Haß auf sie und ihren Jose schwieg ich. Ich stand auf, nickte ihr zum Abschied zu, ohne dieses schwachsinnige Lächeln zu zeigen, das seit Stunden um meine Lippen spielte. »Ich rate dir, weniger zu lächeln, Mody. Du hast ein wunderschönes Lächeln, aber wenn du übertreibst und es bei jeder Gelegenheit hervorholst, offenbarst du deine plebejischen Wurzeln. Sei vorsichtig!«
»Es stimmt, Modesta, mir ging es genauso. Vom ersten Tag an hatte ich das Gefühl, daß wir uns schon ewig kennen.«
Zum ersten Mal hatte sie mich Modesta genannt, und aus ihrem Mund klang dieser häßliche Name beinahe schön. Tja, lieber Carmine, ich bin deinem Rat gefolgt, einem Gesicht auszuweichen, indem ich einfach den Kopf abwende oder die Gasse meide, wo ein halbgeöffnetes Fenster von verlockenden Schatten kündet. In Palermo hatte ich es geschafft, den immerblühenden Rosen zu entgehen, die jeden Morgen im Hotel ihren roten Sonnengesang anstimmten. In Paris unter dem smaragdgrünen Blick Michels war es leicht gewesen, die irgendwann bevorstehende Abreise vorzuziehen. Und auch jetzt hätte ich ihr nur Pietros Billett geben müssen, dasauf meinem Schreibtisch lag, wo der Name eines Schiffes und ein Datum die Stimme zum Schweigen bringen würden, die jeden Nachmittag das Haus mit ihren Märchen, Landschaften und Geschichten erfüllte, spannender als die Abenteuer der heiligen Agate und der heiligen Rosalia. Doch wie konnte man sich dem Bericht von jener mit Schnitzereien verzierten weißen Holzvilla entziehen, die sich, kehrte man bei Sonnenuntergang von einer langen Ruderfahrt heim, groß und leuchtend in den grauen Fluten des Bosporus spiegelte?
»… Um uns Angst einzujagen, flüsterte Nazim immer, daß um diese Zeit der Hausgeist dem Meer entstieg, um sich von der untergehenden Sonne zu verabschieden.«
Nein, sie würde Pietro nicht das Zeichen geben. Später vielleicht, beim nächsten Dampfer.
»Ich sehe Euch in Gedanken, Modesta, langweile ich Euch vielleicht mit meinen Geschichten aus der Kindheit?«
Und dann erkundigt auch sie sich nicht mehr nach der Abreise. Auch nicht bei Stella. Und fügt, ohne meine Antwort abzuwarten, hinzu:
»Es ist merkwürdig, Modesta, aber seit ich hier bin – ich weiß nicht, ob dank Eurer Heiterkeit oder Stellas oder der des Hauses –, ist jede Sorge von mir abgefallen. Ich schäme mich fast, aber hier geht es mir so gut wie damals mit Nazim in dem Haus unserer Kindheit.«
Seht ihr? Sie selbst will nicht mehr abreisen, und innerlich zerreiße ich Pietros Billett mit dem Namen des Schiffes, des Kapitäns und allem anderen.
»O ja, glücklich wie damals! Und vielleicht verstehe ich im Gespräch mit Euch allmählich auch den Grund dafür. Nie zuvor war ich auf Sizilien, und niemals hätte ich das für möglich gehalten.«
»Was denn, Joyce?«
»Wie ähnlich Euer Land dem meinen ist. Das Licht, die ernsten Mienen der Bauern, die Geister!«
»Die Geister?«
»Ja, jedes Gäßchen, jeder Palast hier, vielleicht liegt es an eurem strengen, strahlend weißen Barock, obwohl sich das zu widersprechen scheint, eure Brunnen, die alten Volksweisen, ich weiß nicht, alles weckt Erinnerungen an Geister und vertraute Stimmen. Bei meinen Spaziergängen habe ich oft das Gefühl, den Klagegesang des Muezzins zu hören, und ertappe mich dabei, wie ich den Blick hebe und nach dem steinernen, gen Himmel gerichteten Ruf suche, den das Minarett für die Gläubigen in der Türkei darstellt. Für mich sind sie nichts anderes als Stein gewordene Angstschreie, erstarrt in der Furcht vor dem gnadenlosen Himmel, der die bange Seele zu Boden drückt … Wie gern würde ich ein Schiff besteigen, Modesta, und Euch Anatolien zeigen!«
Seht ihr? Sie spricht sogar das Wort Schiff aus, ohne auch nur im geringsten auf die »San Giovanni Decollato« anzuspielen, die am Samstag im Morgengrauen sicher nach Südamerika ausläuft, wie ich ihr angedeutet habe.
»Euch Istanbul zeigen! Erlaubt mir zu träumen, Modesta, was ich so lange nicht mehr tat, zumal die Schuld, wie gesagt, bei euren Bäumen liegt, eurem Himmel, eurem Licht. Zwanzig Tage Istanbul, ein Abstecher nach Edirne, wo die schönsten Moscheen der Türkei stehen. Und dann weiter, monatelang durch das große, rauhe und epische Herz Anatoliens. Anatolien! Ein Landstrich ohne Sentimentalitäten. Istanbul? Nein, Istanbul verrät wie jede Hauptstadt das wahre Wesen des Landes, das sie repräsentiert. Erst jetzt verstehe ich, was Nazim
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