Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Gefühl.«
»Dann darf ich Euch vielleicht fragen, als alte Bekannte, ob Ihr mit mir speisen möchtet, oder seid Ihr in Eile?«
»Nicht im geringsten.«
»Das freut mich über alle Maßen! Möchtet Ihr lieber im Saal oder auf der Terrasse sitzen?«
»Auf der Terrasse. Wie Ihr so scharfsinnig bemerkt habt, wirken das Schweigen dieser Mauern und die großen Augen der Fensterfront eher hypnotisierend …«
Als wir nach draußen gehen, verwandelt sich das intensive Schwarz von Timurs Augen plötzlich in ein tiefes, fast violettes Blau, das hochmütige und kompakte Blau der Seen des Nordens.
»Wie kamen wir denn nun auf den Gardasee zu sprechen? Ach ja, die Sehnsucht nach dem Meer! Unter seiner harten Schale verbirgt das deutsche Volk eine tiefe Sehnsucht. In jenem Internat habe ich das Wesen der Deutschen verstehen gelernt und die Sehnsucht, von der ihre wundervolle Lyrik durchdrungen ist. Manchmal wollte es mir als Südländer scheinen, als sei die Ferne zum Meer die Quelle dieser Sehnsucht: das Meer als Versprechen von Freiheit, Jugend, Abenteuer. Wir, die wir gewohnt sind, es zu spüren, es zu sehen, empfinden diese Sehnsucht selbst in den fernen Wäldern des Nordens niemals so stark, so grausam, wie soll ich sagen?, so verzweifelt, das ist es! Noch wenige Tage der Seligkeit, dann muß ich nach Berlin zurück. Ich brenne darauf, wieder in Berlin zu sein, auch wenn ich weiß, daß mich dort ein kleines Stück dieser Sehnsucht erwartet. In Erwartung meiner Rückkehr werde ich diesen Kelch Schluck für Schluck leeren.«
»Werdet Ihr hierher zurückkehren?«
»Aber nein! Ich wurde nur gerufen, um den Beginn der Ausgrabungsarbeiten zu beaufsichtigen, den Rest übernimmt ein jüngerer Kollege. Um ehrlich zu sein, hielt man es für Verschwendung, mich für eine solche Unternehmung einzusetzen.«
»Ein jüngerer Kollege? Aber Ihr seid doch sehr jung!«
»Die Jugend ist die Kraft des Dritten Reiches.«
»Natürlich.«
»Ich sehe, daß Ihr über die Ausgrabungen informiert seid. Ich nehme an, durch meine Schwester.«
»Ja.«
»Dann kann ich nur hoffen, daß sie Euch auch den Brief gegeben hat … Eurer Verlegenheit entnehme ich, daß sie das nicht getan hat. Verzeiht mir, Fürstin, es zeugt von untolerierbar schlechter Erziehung, die Freundlichkeit eines Menschen auszunutzen, um ihn in die intimsten Angelegenheiten einer Familie hineinzuziehen. Ich hatte gehofft, daß Joyce uns diesen Impasse ersparen würde. Und sie hat Euch auch nicht gesagt, ob sie die Absicht hat zu schreiben?«
»Sie hat mir nichts gesagt.«
Das makellose Blau seiner Augen verdüstert sich wie die Oberfläche eines Sees bei aufziehendem Gewitter. Ich mag keine Seen, ihr auf engsten Raum begrenztes Ungestüm macht mir angst. Ich möchte wieder ans Meer. Tuzzu sprach niemals von Seen, diesen abgrundtiefen Löchern, aufgewühlt von schwarzen Schlangen in ewigem Ringen …
»Euer Gesichtsausdruck hat sich verändert, Fürstin, und aus Eurer Betrübtheit lese ich einen Vorwurf heraus, verzeiht! Doch es ist nur Joyces Taktlosigkeit, glaubt mir, und wäre es nicht meiner Mutter zuliebe, wäre ich nicht gekommen, um der Unziemlichkeit meiner Schwester diemeine noch hinzuzufügen … Aber da sie nun einmal so entschieden hat, bin ich zumindest verpflichtet, Euch mein Verhalten zu erklären. Meine Mutter hat mich, nachdem sie den Unterschlupf ihrer Tochter entdeckt hatte – was nicht leicht war, arme Alte! –, immer wieder gedrängt, herzukommen und Joyce zu fragen, warum sie ihre Briefe ignoriert. Es ist schmerzlich für mich, doch ich muß Eurem Blick antworten, manche Dinge sind so entsetzlich rührselig, und noch schlimmer ist es, davon sprechen zu müssen. Aber dennoch, als sich Fräulein Joland umgebracht hatte und Joyce verschwand, erlitt meine Mutter einen Schlaganfall, der sie von der Hüfte abwärts lähmte. Nur deshalb ist sie nicht selbst hergekommen. Sie ist keine Frau, die sich von anderen bedienen läßt, auch nicht von ihrem Sohn. Das beweist allein die Tatsache, daß sie mich in all den Jahren lediglich zweimal gebeten hat, Joyce aufzusuchen, dies ist nun das dritte Mal. Oh, nicht etwa, um sie zu zwingen, nach Hause zurückzukehren. Ihr kennt meine Mutter nicht, und ich habe die Pflicht, sie im richtigen Licht erscheinen zu lassen. Es war kein egoistischer Wunsch nach der Tochter, niemals hat sie uns um eine Stunde unserer Freiheit gebeten. Das macht es so empörend. Warum antwortet sie nicht auf die Briefe? Warum? Mit der Zeit
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