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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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saß mit dem Rücken zu mir, hatte den Dämpfer gezogen und ließ die Hände still über die Tasten gleiten. Jacopo, der immer größer und dünner zu werden schien, saß gebeugt am Tisch und führte Crispinas kleine Hand über ein großes Blatt voller Zeichen. Prando lag wie zum Schlafen ausgestrecktauf dem Sofa. In der Hand eine Zigarette, verfolgte er zwischen den halbgeschlossenen Lidern hindurch die Rauchringe, die in die Luft stiegen. Es war das erste Mal, daß ich ihn rauchen sah. Auf dem Teppich liegend, blätterte ’Ntoni in einem dicken Buch. Bambolina ging um den Tisch herum und begutachtete ihr Werk: Tassen, Törtchen, kleine Servietten und in der Mitte des Tisches, über allem thronend, eine Fülle von Blumen. Einen Schritt auf den Tisch zu, um eine Blüte zurechtzuzupfen, dann einen Schritt weg, um das Gesamtbild zu begutachten …
    Bambú: »Oh, Tante. Gefällt es dir?«
    Modesta: »Sehr.«
    Bambú: »Trinkst du Tee mit uns?«
    Modesta: »Sicher.«
    Jacopo: »Liebe Mama, ich darf dir mitteilen, daß Crispina über ein verblüffendes Lernvermögen verfügt, wie Professor Montaldo sagen würde.«
    Bambú: »Oh, Tante, wir haben uns halb totgelacht über seinen Professor Montaldo. Komm, Jacopo, mach ihn noch einmal nach!«
    Jacopo: »Tut mir leid, liebe Bambú, aber Paganini gibt keine Zugaben. Hab ich recht, ’Ntoni?«
    ’Ntoni: »Niemals! Zugaben verderben das Publikum, diese Zeiten sind vorbei. Heutzutage tendiert man eher dazu, die Atmosphäre nicht durch Klatschen und Zugabe-Rufe zu zerstören. Stellt euch vor, früher hat Giovanni Grasso regelmäßig die entscheidende Szene eines Dramas wie Giacomettis ›Morte civile‹ als Zugabe gegeben.«
    Mela: »Na und? Warum nicht? Wie in der Oper.«
    ’Ntoni: »Aber das ist hoffnungslos veraltet, entschuldige, wenn ich mich wiederhole, Mela.«
    Bambú: »Veraltet oder nicht, Jacopo muß Mama noch einmal seinen Lehrer vorspielen … Was hat er zu dir gesagt, Jacopo?«
    Jacopo: »›Verblüffend, junger Brandiforti! Ganz verblüffend, dein Lernvermögen, das sicherlich irgendwie mit der Länge deiner Statur in Verbindung zu bringen ist. Wenn ich nicht aus offensichtlichen Gründen über dein Alter informiert wäre, wäre ich tatsächlich geneigt zu glauben, du seist ein weiser Greis in Kinderkleidern.‹«
    Bambú: »Das war im Juni, wenn du so weitermachst, wird er wie ich den Kopf heben müssen, um deine Schnute zu sehen.«
    Jacopo: »Schnute? Verblüffend, kleines, reizendes Fräulein, Euer absolut mangelhaftes Sprachvermögen! Schnute ist beinah so vulgär wie Maul, Herrschaftszeiten! Und außerdem stimmt es nicht, Bambú, du kleiner Satansbraten, du kannst nicht einfach zwischen einem Stück Kuchen und einem Lächeln mit solchen Unterstellungen um dich werfen. Oder bin ich tatsächlich gewachsen? O Gott! Ich sehe den Teppich wie aus einem Flugzeug. Prando, steh auf! Los, guck dir Prando an, Bambú. Er ist immer noch größer als ich.«
    Bambú: »Vielleicht noch drei Wochen lang. Aber dann leb wohl, Überlegenheit. Prando wird sie an dich abtreten müssen. Seht ihn nur an, warum stehst du so gebeugt da? Ich mag große Leute.«
    Jacopo: »Gib mir noch eine Tasse Tee, du hast mir den ganzen Nachmittag verdorben! Es ist ja nicht gerade so, daß ich wild aufs Wachsen wäre, Bambú. Es ist so schön hier mit euch. Manchmal träume ich, daß jemand im Vorzimmer des Schulleiters meine Maße nimmt, stell dir mal vor! Und dann anordnet, daß ich euch und dieses Haus verlassen muß.«
    Prando: »Was du immer für Träume hast, Jacopo!«
    Jacopo: »Und damit noch nicht genug, ich weine sogar im Traum.«
    Prando: »Dann hat Joyce also recht! Oder stehst du etwa schon so unter dem Einfluß ihrer Vorträge? Ich glaube ja nicht an diese Geschichte mit den Träumen.«
    Jacopo: »Ich schon. Als sie mir davon erzählte, wußte ich, daß sie recht hat und daß meine gebeugte Haltung ein Zeichen dafür ist, daß ich nicht wachsen möchte.«
    Prando: »Ammenmärchen. Du bist faul, das ist alles.«
    Jacopo: »Aber ich reiße mich immer wieder zusammen und versuche, gerade zu stehen. Dem Größerwerden kann man sowieso nicht entrinnen, wie dem Alter und dem … Ja, wenn ich recht darüber nachdenke, dann … Das ist es, ich will nicht groß werden, weil ich Angst habe zu sterben.«
    Prando: »Jetzt wo du es sagst, auch ich hatte in deinem Alter Angst vor dem Größerwerden, aber nicht in meinen Träumen. Tagsüber hatte ich Angst, mit all dem Gerede von sinnloser

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