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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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ist die Vorstellung von Joyce, auch aufgrund der Bewegungsunfähigkeit meiner Mutter, für sie zur Obsession geworden. Inzwischen ist sie davon überzeugt, daß Joyce tot ist und wir sie belügen, um sie zu schonen. Es ist unerträglich, ganz und gar unerträglich, den schmerzlichen Verfall dieser starken und schönen Frau mit ansehen zu müssen. Und so konnte ich, als ich nach Sizilien geschickt wurde, ihr den Wunsch nicht erneut abschlagen, auch wenn das für mich einen hoffnungslosen Opfergang bedeutete. Ich wußte, daß Joycemich nicht empfangen würde. In einem entscheidenden Gespräch hatte sie mir gesagt, daß ich für sie gestorben sei. Damals war dieses Urteil für mich so etwas wie eine Befreiung von ihrer stetigen Zurückweisung meiner brüderlichen Zuneigungsbekundungen. Lange quälte mich die Frage nach dem Warum ihrer Zurückweisung. Vielleicht weil ich als Neugeborenes den Platz der toten Renan eingenommen hatte? Oder vielleicht eine instinktive Abneigung, wie sie auch zwischen Geschwistern vorkommt? Aber ich fand mich wohl oder übel damit ab, keine Schwester zu haben. Und für einen Jungen im Internat ist es schmerzlich, das liebe Bild der Schwester aufzugeben, die, auch wenn sie nicht schreibt und nicht zu Besuch kommt, doch irgendwie da ist … Na ja, jetzt aber genug von den traurigen Familiengeschichten, wir haben ausgeweint. Nach einem köstlichen Mahl wie diesem neigt man ein wenig zu melancholischen Grübeleien, und das zudem – darf ich so frei sein, Fürstin? – vor den schönsten und leuchtendsten Augen, denen ich je begegnet bin. In Eurem Blick liegt die unendliche Weite des Himmels.«
    In Joyces Schule müssen meine Gefühle gelernt haben, sich nicht zu regen, wenn ich weder bei seinem unerwarteten Lächeln noch angesichts seines Vortrags oder der geordneten Narben zusammenzucke: geordnete Brutalität, die auf den Bildern der Wochenschau gleichmütig im Sonnenschein vorbeimarschiert.
    »Die Sonne hat unseren Tisch erreicht, Fürstin. Wollen wir den Kaffee woanders einnehmen? Ihr trinkt doch einen Kaffee, hoffe ich? Ich muß Euch gestehen, daß hier in Italien für mich Mittag- und Abendessen nur das Vorspiel für unseren unvergleichlichen Kaffee darstellen. Oder möchtet Ihr lieber hierbleiben, und wir lassen uns einen Sonnenschirm aufspannen?«
    Joyces Lächeln, das so schnell aufleuchtet und erlischt, verweilt etwas länger zwischen den Narben, während es dem Kellner in weißer Livree folgt, der mit wenigen präzisen Bewegungen einen grünen Schattenkreis um uns zeichnet.
    »Ich muß Euch gestehen, Fürstin, daß ich mich immer wieder neu über die Eleganz unseres Volkes wundere. Es ist mir schon passiert, einen Termin zu verpassen, weil ich ganz in der Betrachtung der klaren und tänzerischen Bewegungen eines beliebigen Schutzmannes versunken war, der den Verkehr regelte. Es mag übertrieben klingen, aber solche Gesten erinnern mich immer eher an die eines großen Dirigenten als eines Soldaten. So wie Ihr – ohne indiskret erscheinen zu wollen, glaubt mir, es ist nur Bewunderung, die mich Euch so anstarren läßt –, Ihr habt eine antike, feierliche Grazie, die so rar geworden ist in unseren Zeiten, in denen die Frau robust und athletisch sein soll, um beim Marschieren mit den Männern Schritt halten zu können. Doch der Fortschritt verlangt uns allen Opfer ab! Und so hat unser Führer, der den im Schatten der Kirche so lange mißachteten Wert der Frau ganz richtig erkannt hat, sie zur Pflicht an unserem Volk gerufen und sie von der irrigen, individualistischen Überzeugung befreit, mit ihren schützenden Engelsflügeln nur den begrenzten, wenn auch heiligen Raum der eigenen Familie umfangen zu müssen. Scharfsinnig hat Hitler die Beschränktheit jener Aufgabe erfaßt, die der Frau bis gestern auferlegt war, und sie als Feind des Fortschritts und des Vorrückens unserer Völker identifiziert. Und die Frauen folgen unserem Ruf in Scharen. Die Olympischen Spiele in Berlin waren eine mitreißende Offenbarung. Befreit von den störenden Zöpfen, waren ihre Köpfe unserer antiken Dianen würdig! Seid nicht betrübt, ich versteheEuch sehr gut. Auch mir, der eine überholte und verdorbene Bildung genossen hat, fiel es zunächst schwer, mich von Ästhetizismus und Verweichlichung zu befreien, und ich möchte Euch nicht verschweigen, daß auch mich in der langen Phase der Umerziehung, die ich mir auferlegt habe, noch manchmal im Licht der absoluten Wahrheit der neuen, nicht länger

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