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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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kontemplativen, sondern ganz vitalen Ideen die Nostalgie nach einer Welt packt, die dem Untergang geweiht ist. Doch ich weiß, wie ich diese leichten Migräneanfälle unterdrücken und auf die sichere Straße des Tuns zurückfinden kann, die endlich so klar vor uns liegt! Welchen Nutzen bringen wir großen und kleinen Intellektuellen mit unserem Hang zur abstrakten, poetischen Ausschweifung, während unser Volk immer noch in Krankheit und Ohnmacht dahinsiecht? Ohne falsche Bescheidenheit kann ich mich rühmen, wie viele andere junge Leute in den Reden des Führers das Ziel zu erkennen, das er uns in Aussicht stellt: Europa wird ein einziges großes Volk sein, unter der Führung von Fachleuten, von herangereiften Intellektuellen, die endlich bereit sind, dem eigenen Staat und nicht einem fruchtlosen Narzißmus zu dienen. Wer bin ich? Was sind fünfzig, hundert Jahre der Geschichte? Menschen wie wir werden hinweggefegt werden, und an unsere Stelle werden starke und integre Männer und Frauen treten, die alle einem einzigen Willen folgen. Wenn Joyce nur vor vielen Jahren den Dialog zwischen uns zugelassen hätte! Männer wie Carl Gustav Jung haben ihre Wissenschaft in den Dienst Deutschlands gestellt. Rußland ist bereit, mit uns zusammen zu leben … Bitte entschuldigt meine langen Ausführungen, Fürstin, inspiriert von Eurer Frisur, die sich so von Eurer Art, Euch zu bewegen, unterscheidet, von Eurer antiken Schönheit. Eureganze Person hat mich in die Irre geführt … Es braucht Zeit, um die korrekte Datierung einer Vase, einer Hand, eines verstümmelten Torsos vorzunehmen. Angesichts Eurer fehlenden langen Haare, die Euer Antlitz doch zu verlangen scheint, hatte ich, wie soll ich sagen, an eine Verstümmelung gedacht. Doch allmählich, in dieser Stunde, die Ihr mir freundlicherweise zugestanden habt, habe ich in Eurem Kinn und Eurem Hals die Kühnheit der Artemis toxótis entdeckt, die sicherlich von der großen Bildhauerin Natur beabsichtigt war … Kein Grund zur Verlegenheit, das ist kein Kompliment, sondern lediglich das sachliche Urteil eines Kenners. Und wenn ich ästhetisch die Absicht des Bildhauers verstanden habe, so verleiten mich die Eurer freien Beweglichkeit geopferten Haare psychologisch zu der Hoffnung, daß Ihr für unsere Sache nicht verloren seid. Wir brauchen Frauen wie Euch, wie Joyce … Joyce, undankbare Schwester! Leider enden auch Stunden wie diese, die Ausgrabungsstätte erwartet mich. Nachdem ich Euch nun getroffen habe, erscheint mir Himmlers Überzeugung, Pfeile und Gebrauchsgegenstände aus der Zeit der Sikuler oder früher ließen auf eine germanische Präsenz auf dieser Insel schließen, nicht mehr ganz so unhaltbar wie zu Beginn. Ich nährte gewisse Zweifel, weil das deutsche Genie, wenn es sein Herz an ein Land oder ein Gesicht verloren hat, sich nicht damit abfinden kann, daß es vielleicht nicht vom selben Ursprung stammt. In diesem Fall ist Himmler so von der Insel eingenommen, daß er versucht, einen Traum wahr werden zu lassen. Aber wer weiß! Doch nun los, Timur, die Pflicht ruft … Die Rechnung, Kellner! Leider verbietet Joyce es mir, Euch nach Hause zu begleiten, Fürstin, und … sie wiederzusehen, doch ich bitte Euch im Namen meiner Mutter, überzeugt sie, ein paar Zeilen zu schreiben,um die Frau zu beruhigen, daß ihre Tochter lebt, und so ihrem Leiden den Stachel zu nehmen. Versprecht Ihr mir das?«
    »Natürlich. Seid versichert, daß ich mein Möglichstes tun werde.«
    »Danke. Ich wußte, daß ich auf Euer Verständnis zählen könnte. Fürstin, vielleicht sehen wir uns nicht wieder. Ich werde Euer Antlitz im Gedächtnis behalten als die schönste unter all den sikulischen Münzen, die ich studiert habe. Adieu!«
    Im dichten Grün des Gartens verharrt Timurs vom Lächeln versiegelte Stimme einen Moment, während zwischen dem Weiß der Tische schwarze Pistolengurte aufblitzen, eng geschnürt wie Mieder. Hier und da warten geduldig Offizierspaare. Aus der Ferne betrachtet, reduzieren ihre massigen Stiefel die anmutigen Orangenbäume auf das Ausmaß zerbrechlicher Miniaturen.

72
    Als ich nach Hause kam, hätte ich am Eingang des Parks beinahe Joyce überfahren, die sich hinter dem Gittertor verbarg, doch ich hielt nicht an. Erst auf der Schwelle zum Wohnzimmer, in der tröstlichen Stille der Bücher, Tische und Sessel, nahm das Gefühl der Beklemmung allmählich ab. Um niemanden zu stören, ließ ich mich leise auf das kleine Sofa neben der Terrassentür sinken. Mela

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