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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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jetzt tust. Ich habe es an der Bewegung deiner Lippen gesehen, weißt du.«
    Erst als mir das Rascheln ihres Gewandes sagte, daß sie schon an der Tür war, öffnete ich die Augen einen Spalt und sah sie an: Sie war winzig klein geworden, wie ein Lappen, der vom vielen Waschen eingelaufen ist. Glücklicherweise hatte ich die Augen nicht früher geöffnet, denn ein heftiger Stoß in der Brust ließ mich jäh zusammenfahren. Und ohne daß ich etwas dagegen tun konnte,begann ich zu weinen und zu schluchzen. Aber wirklich, »mit echten Tränen«, wie Dante sagt.
    Meine Tränen geronnen zu eisigem Erstaunen, als ich sie am nächsten Tag richtig ansehen konnte. Das war nicht mehr sie. Zwei tiefe Falten an den Mundwinkeln verzogen ihre Lippen zu einer scharfen Grimasse. War ihre Stimme deswegen metallisch schrill geworden und sprach nur noch von Sünde, der Hölle, Sühne und Tod? Als sie weggegangen war, passierte etwas, was mir früher unvorstellbar erschienen wäre: Ich wollte sie nicht mehr wiedersehen. Und so beschloß ich, sofort gesund zu werden, um diese bleierne Stunde nicht länger ertragen zu müssen. Jeden Tag erwartete ich sie angekleidet und mit rosigen und frischen Wangen, die ich zuvor gekniffen und mit kaltem Wasser besprengt hatte.
    »Sehr gut, Modesta. Ich sehe, daß du dich richtig verhältst und dich nicht von der Süße der Rekonvaleszenz sündig einlullen läßt. Es freut mich zu sehen, wie groß du in diesen Monaten geworden bist. Im Bett hast du ganz klein ausgesehen, so wie früher. Aber du bist groß und stark geworden. Doch bilde dir nichts darauf ein. Auch in einem gesunden Körper können sich Versuchungen einnisten. Bete! Deine Gesundheit hast du nur dem Gebet zu verdanken und der heiligen Agate, die über dich gewacht hat. Ich habe in diesen Monaten immer von ihr geträumt und sie manchmal leibhaftig vor mir gesehen, so wie ich dich jetzt sehe. Sie kam zu mir, und ihre Augen sagten mir, ich könne ruhig sein, denn sie wache über dich. Ich gehe nun. Meine Besuche wären jetzt, da ich dich wieder bei Kräften sehe, ein Zeichen der Schwäche. Darum will ich lieber gleich gehen, da mich andere leidende Seelen erwarten. Ab morgen sehen wir uns nur noch in der Kapelle beim Gebet und zum Unterricht.Schwester Angelica wird sich freuen, dich wieder am Stickrahmen zu haben, sie sagt, daß es mit dem Gobelin nicht so gut vorangeht, seit du nicht mehr da bist.«
    Endlich war diese mir fremde Stimme verstummt, und sie ging hinaus. Inzwischen haßte ich sie. Ganz unerwartet erfüllte mich dieser Haß, den sie Sünde nannten, mit einem so starken Gefühl der Freude – es war wie ein Peitschenhieb –, daß ich die Hände zu Fäusten ballen und die Lippen fest zusammenpressen mußte, um nicht hinauszulaufen und zu singen. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, sagte ich leise vor mich hin: Ich hasse sie, um zu sehen, ob sich die Wirkung wiederholte oder ob ich vom Blitz getroffen würde. Draußen regnete es. Meine Stimme kam zu mir wie eine frische Brise, die mir Stirn und Brust von Furcht und Melancholie befreite. Wie konnte es sein, daß mich dieses verbotene Wort so beflügelte? Darüber würde ich später nachdenken. Jetzt mußte ich es nur noch laut wiederholen, damit es mir nicht mehr entwischte: Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie, schrie ich, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß die Tür gut verschlossen war. Der Panzer der Melancholie löste sich Stück für Stück von meinem Körper, mein Brustkorb weitete sich, geschüttelt von der Kraft dieses Gefühls. Eingezwängt in die Schürze, bekomme ich keine Luft mehr. Was lastet mir noch auf der Brust?
    Als ich mir die Schürze und das Hemd vom Leib riß, fanden meine Hände diese engen Binden, »damit man den Busen nicht sieht«, die mir bis zu diesem Moment wie eine zweite Haut gewesen waren. Eine scheinbar so weiche Haut, die mich fesselte mit ihrem beruhigenden Weiß. Ich nahm die Schere und schnitt sie in Stücke. Ich mußte atmen können. Und endlich nackt – wie lange hatte ich meinen nackten Körper nicht mehr gespürt?auch beim Baden mußte man das Hemd immer anlassen –, entdecke ich meinen Körper wieder. Der befreite Busen bricht unter meinen Händen hervor, und ich streichle mich dort auf dem Boden und genieße meine Liebkosungen, die dieses Zauberwort freigesetzt hat.

15
    Kein Blitz traf mich, während draußen der Regen weiter an den Fensterscheiben hinunterlief. Mein nackter, vom Vergnügen aufgeheizter Körper spürte

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