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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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sie um Verzeihung bitten.«
    »Sich entschuldigen oder Reue zeigen funktioniert bei Erwachsenen, bei den Kleinen muß man handeln, etwas tun, das sie das erlittene Unrecht vergessen läßt.«
    »Weißt du, was ich morgen mit dem Lohn mache, den du mir für die Unterrichtsstunden gegeben hast? Ich kaufe ihr ein Geschenk. Was könnte einem kleinen Mädchen denn gefallen, Mama?«
    »Denk nicht nur an das kleine Mädchen, überlege, was dir selbst gefallen würde.«
    »Ich werde morgen ’Ntoni fragen, er hat immer so tolle Ideen. Ach was, heute! Sieh nur, Mama, die Morgenröte! Wie kann das sein? Und ich bin gar nicht müde … Wie kann das sein, daß ich nicht müde bin?«
    »Weil du leidest, Jacopo. Auch ich wurde nie müde, wenn ich litt.«
    »Habe ich schon einmal so gelitten, Mama? Ich erinnere mich nicht.«
    »O ja. Weißt du noch, als Bambú Diphtherie hatte? Du warst noch klein, aber du hast alles mitbekommen und ständig geweint.«
    »Ach ja, ja. Aber wo war Prando denn damals?«
    »Hier.«
    »Und hat er auch so gelitten?«
    »Nein, Prando ist da anders. Wir sind alle verschieden, das macht die Dinge so kompliziert. Prando glaubte Antonios Lüge, der Lüge eines Arztes, der euch nicht erschrecken wollte. Aber du hast ihn durchschaut und warst einfach untröstlich.«
    »Wie sich das Licht vom Horizont her ausbreitet! Wollen wir hinausgehen und zusehen?«
    »Sicher, aber wir müssen uns beeilen, weil die Sonne schnell aus dem Meer aufsteigt.«
    »Mal sehen, ob sie schneller oben ist, als wir am Strand sind.«

76
    Während wir über den morgenkalten weißen Sand laufen, erhebt sich vor uns die klare Himmelsfläche wie eine blasse, endlose Wand.
    »Lauf, Mama, wir schaffen es!«
    »Lauf, Jacopo, lauf, es wird dir helfen!«
    »Wie entkommt man seinem Schicksal, Mimmo?«
    »Indem man im Geiste seinen Absichten davonläuft, ohne sich jemals umzudrehen. Flink muß man sein, bisman es hinter sich zurückgelassen hat, das dumme Hasenschicksal!«
    »Wir haben es geschafft, Mama! Alles ist weiß. Man kann nichts mehr sehen, selbst der Kopf des Propheten ist verschwunden. Oder geht das nur mir so? Muß ich jetzt etwa eine Brille tragen, wie Antonio sagt?«
    »Nein, Jacopo, man sieht wirklich nichts! Ganz schön kalt ist es, oder liegt es daran, daß ich alt werde? Ich hasse das Altern fast so sehr wie du Brillen.«
    »Von wegen alt! Das kommt daher, daß wir nicht geschlafen haben, aber Jacopo hat vorgesorgt, sieh nur.«
    »O nein, du willst mich nur ablenken, um selbst als erster das Auge der Sonne zu erblicken.«
    »Jacopo hat vorgesorgt … Behalte du nur immer den Horizont im Auge, aber heb die Arme, damit ich dir den Pullover überstreifen kann. So … Seht euch das an, nicht einmal für ein Dankeschön dreht sie sich um.«
    »Nein, nein, darauf falle ich nicht herein, wenn ich mich umdrehe, siehst du sie zuerst …«
    »Da ist sie!«
    »Teufel noch eins! Jetzt hast du es also doch geschafft, mich abzulenken.«
    »Was soll das, warum schlägst du mich, Mama?«
    »Du warst hinterhältig und verdienst eine Tracht Prügel.«
    »Und ich hindere dich daran, liebe Mama, die Zeiten sind vorbei, da du mich noch nach Belieben verprügeln konntest. So … mit dem Rücken auf die Erde, jetzt versuche dich zu rühren, wenn du kannst … Gibst du auf? Wenn du nicht aufgibst, nagele ich dich mit vier Pflöcken in den Strand, und du mußt um Hilfe schreien.«
    Ich konnte mich nicht rühren. Woher nahm er nur diese Kraft? Bis gestern noch war er bei jedem Wettrennenkeuchend hinter mir zurückgeblieben. Und woher hat er dieses triumphierende Lachen, das seine grauen Augen versilbert? Onkel Jacopo bekommt auf dem Foto hinter seinen Brillengläsern kaum ein Lächeln zustande. Dieses hohe, offene Lachen, die schwarzen Locken, der silberne Schein, der von den Pupillen auf die Stimme überspringt, entstammen Inès’ Venen.
    »Du mußt es dreimal sagen.«
    Im Kampf läßt der Schmerz nach, doch anschließend kommt er sofort zurück und verwandelt sein Lachen in ein eisiges Flüstern:
    »Mama, ich hasse diese Frau und weiß, daß sie schlecht ist … Mir ist plötzlich so kalt.«
    »Mir auch.«
    »Laß uns nach Hause gehen, ich mache dir eine schöne heiße Milch.«
    Die heiße Milch, die nach und nach die Kälte aus den Nerven trieb, ließ in meinen Beinen und meinem Kopf die gesammelte Müdigkeit einer schlaflosen Nacht zurück.
    »Ich kann nicht mehr, Jacopo, ich bin hundemüde. Bring mich hinauf, diese Treppe kommt mir bei Gott höher

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