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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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vor als der Mont Blanc.«
    »Stütze dich auf mich, dann gehen wir nach oben. Oh, Mama, du hast abgenommen, oder ich wachse immer noch … Wie lange wächst man, Mama?«
    »Bis man stirbt. Oh, um Himmels willen, mach die Fensterläden zu! Ich will kein Licht mehr sehen!«
    »Sofort, Mama. Besser so?«
    »Was ist das Bett doch für eine großartige Erfindung, Jacopo!«
    »Darf ich mich zu dir legen?«
    »Ja, wenn du mir vorher die Schuhe ausziehst.«
    »So kleine Ösen! Die bekommt man ja kaum auf.«
    »Als wären Priester und Philosophen uns nicht Bürde genug, machen einem selbst die Schuster das Leben schwer, um ihnen nicht nachzustehen.«
    »Hast du gesagt, daß man wächst, solange man lebt?«
    »Und vielleicht noch länger.«
    »Wie, noch länger? Das war doch immer das einzige Thema, bei dem Joyce und Andrea sich einig waren, daß danach nichts mehr kommt.«
    »Ach, und auch unser Antonio, der große Arzt und Professor.«
    »Und Atheist …«
    »Du hast das Zauberwort genannt.«
    »Was soll das heißen?«
    »Das Luxusetikett, wie dasjenige an den Schuhen mit den Ösen, die mir übrigens Joyce geschenkt hat …«
    »Aber entschuldige, Mama, bist du nicht auch Atheistin?«
    »O Jacopo, warum willst du mir jetzt auch noch ein Etikett verpassen?«
    »Na, damit wir uns verstehen, um mit den Worten umzugehen …«
    »Worte lügen, kaum hast du eines ausgesprochen, klappt es über dir zu wie ein Sargdeckel. Wenn du unbedingt willst, daß ich dir ein Wort sage, dann dieses: Agnostikerin. Du bist ja alt genug, um zu wissen, was es bedeutet, oder? Diese Leute vom Festland, ohne jemanden beleidigen zu wollen, haben all ihre Gewißheiten, weil sie nicht vom Meer umgeben sind, und sie wissen nicht, daß auch sie eine Insel sind, umgeben vom Weltraum. Glaube mir, ich habe den Eindruck, daß sie bisher nicht einmal Galileo Galilei verstanden haben, obwohl sie Flugzeuge über ihre Köpfe hinwegfliegen sehen.«
    »Aber das hat nichts mit Atheismus zu tun, oder?«
    »Hat es doch. Entschuldige, Jacopo, aber ist eine absolute Verneinung nicht genau dasselbe wie die absolute Zustimmung? Ich habe keine Ahnung von Mathematik, aber du, Teufel noch eins, machst mich wirklich mürbe!«
    »Das stimmt! Deswegen hatte ich soviel Angst vor dem Tod. Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
    »Tja, Jacopo, selbst ich muß noch gehörig wachsen, um mir meinen Tod zu verdienen.«
    »Mama, ich bin müde, darf ich ein wenig hier schlafen? Ich schaffe den Abstieg vom Mont Blanc nicht mehr, darf ich?«
    Im Schlaf kommt der Schmerz zur Ruhe. Das pulsierende Blut fließt stiller, das zarte Bild von einst legt sich über Stirn und Wangen, wo vereinzelte Barthaare sprießen. Auf dem Kopf hat er Inès’ Haar und im Gesicht den blonden Bart Onkel Jacopos.
    Kaum ist der Hunger nach Schlaf gestillt, windet sich die Schlange der Realität wieder unverändert fest um seinen Brustkorb. Ein Zucken durchfährt den Körper, und die weit aufgerissenen Augen bohren sich in einen Punkt in der Ferne. Gestern noch tasteten seine Lider nachdenklich nach den weichen Lippen des Lichts. »Jacopo zu wecken ist ein echtes Vergnügen, Modesta! Zuerst liegt er mit geschlossenen Augen da, und dann lächelt er.«
    »Diese Frau ist schlecht, Mama.«
    »Was willst du mir sagen, Jacopo?«
    »Es ist so fürchterlich!«
    »Ist noch mehr passiert?«
    »Sie hat gesagt, du seist eine Hure.«
    »Brava! Gut gemacht, Inès, ich fürchte, sosehr ich sie mag, hast du doch recht, daß sie ein bißchen schlecht ist.«
    »Bist du denn gar nicht gekränkt?«
    »Weshalb denn? Habe ich mich euch gegenüber jemals als Heilige ausgegeben?«
    »Nein!«
    »Also? Was nur heißt, daß für sie jede normale Frau eine Hure ist. Was soll ich dazu schon sagen? Oder leidest du, weil du es auch von anderen hören mußtest?«
    »Aber nein! Die anderen kritisieren dich, klar, ein paar sagen, du seist exzentrisch. Prandos Freunde halten dich für eine Femme fatale.«
    »Ja, ja, Greta Garbo …«
    »Aber wie kann es sein, daß dich das nicht kränkt, Mama?«
    »Es ist ein Klischee, daß man immer sofort gekränkt sein muß! Wer ist nicht alles gekränkt! Ich versuche lieber zu verstehen, warum sie das gesagt hat.«
    »Weil sie es denkt.«
    »Daß sie und die anderen das denken, interessiert mich einen feuchten Kehricht. Alle denken, und jeder hat das Recht zu denken, was er will. Wie dumm von mir! Wir sind zwei große Dummköpfe, Jacopo!«
    »Warum?«
    »Aber ja doch, sie hat das gesagt, weil sie dich

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