Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Gangs, der zu meinem Zimmer führte, wiedererkannte. Bei dem Gedanken, in die Einsamkeit dort zurückkehren zu müssen, wurde ich langsamer unddrückte ihre Finger noch fester. Das bedauerte ich sofort, denn sie fiel beinahe hin:
»Oh, entschuldigt!«
»Das macht gar nichts! Ich habe mir nicht weh getan, bin ja nicht einmal hingefallen.«
Ich betrachtete sie: Wie sie so still dastand, bemerkte ich ein Ungleichgewicht in ihrer kleinen, mageren Figur, so als ob eine ihrer Schultern kürzer sei als die andere.
»Fürchtest du dich vor der Mama, daß du mich so anschaust und meine Hand so fest drückst? Beim ersten Mal geht das jedem so, aber irgendwann gewöhnt man sich daran.«
Irgend etwas in diesem Gesichtchen voller Seide – selbst bei dem wenigen Sonnenlicht leuchteten die Wimpern golden – ließ mir warm ums Herz werden und mich einen Moment lang meine Vorsicht vergessen.
»Nein, ich fürchte mich vor meinem Zimmer.«
»Vor deinem Zimmer? Was stimmt denn mit deinem Zimmer nicht? Wenn du magst, gehen wir zusammen hinein, und ich sehe nach. Vielleicht ist es traurig … In diesem Haus gibt es viele traurige Zimmer … Zimmer voller schrecklicher Geschichten. Ich hoffe nur, daß sie dir nicht so eins gegeben haben. Erlaubst du, daß ich mit dir hineingehe, oder möchtest du allein bleiben, um zu beten, so wie du es immer tust?«
Ich war drauf und dran zu sagen: »Von wegen beten!« Ich hatte sogar Angst, das schon gesagt zu haben, als ich meine Stimme hörte (glücklicherweise war mir die Vorsicht zur zweiten Natur geworden):
»Nein, kommt nur, ich freue mich. Ich werde später beten. Ich habe so viel gebetet und Madre Leonora so beweint, daß ich in Eurer freundlichen Anteilnahme, jungeFürstin, ein Zeichen Gottes sehe. Vorher habe ich so sehr gefroren.«
»Ja, das merke ich. Und ich merke auch, daß du wie die Tante sprichst. Du mußt sie sehr gern gehabt haben, wenn du so klingst und mich so anschaust wie sie. Es hängt eine Fotografie von ihr, als sie jung war, im rosa Salon, ich zeige sie dir, du siehst ihr ähnlich.«
»Auch Ihr seht ihr ähnlich, junge Fürstin.«
»Natürlich! Aber nenn mich nicht junge Fürstin, sondern Beatrice.«
»Beatrice? Aber Eure Mutter hat doch …«
»Cavallina, ja, so nennt sie mich … aus verschiedenen Gründen. Sie behauptet, daß Beatrice nicht zu mir paßt und daß Papa sich getäuscht hat, als er mich nach Dantes Beatrice benannte. Die sei zu vollkommen gewesen, sagt sie. Aber Dante war nun mal Papas Lieblingsdichter. Doch jetzt komm, sehen wir uns dieses Zimmer an. Komm …«
Und während sie mich weiter an der Hand zog, die inzwischen in der ihren glühte, öffnete sie entschlossen die Tür, und ich folgte ihr glücklich. Genau wie der Dichter hatte auch ich meine Beatrice mit Heiligenschein und allem, was man brauchte, um der Hölle zu begegnen, die für mich dieses Zimmer gewesen war.
Als ich eintrat, erfüllte die Flut ihrer goldenen Haare den Raum mit so viel Licht, daß ich mich beinahe schämte, mich beklagt zu haben. Aber nachdem sie einen Moment lang in der Mitte des Raumes stehengeblieben war und den Fußboden angestarrt hatte, sagte sie:
»Nein, das ist wirklich kein schönes Zimmer, aber ich kann dir versichern, daß hier niemand gestorben ist. Keiner dieser Gegenstände ist mit irgendeinem Unglück verbunden. Nein, hier ist wirklich niemand gestorben, hierhat vorher ein englisches Fräulein gewohnt, das uns verlassen hat, um zu heiraten. Leider, denn sie war nicht nur richtig hübsch, sondern hat auch sehr gut unterrichtet. Jetzt sucht Maman schon seit einem Jahr eine andere, aber aus London schicken sie uns nur Fotografien von alten, häßlichen Frauen. Allein diesen Monat habe ich schon zehn aussortiert, stell dir vor, wenn Maman die gesehen hätte!«
Und meine Beatrice lachte, während sie durch das Zimmer ging, die Wände berührte und die Vorhänge untersuchte. Bis sie plötzlich außer Atem stehenblieb, so als ob sie das Gleichgewicht verloren hätte, obwohl sie gar nicht gerannt war. Sie schaute mich an, dann wurde sie ernst und starrte auf den Saum ihres Kleides. Das war es: Meine Beatrice war nicht so vollkommen wie die des Dichters – sie hinkte. Als ich sah, wie blaß sie geworden war, versuchte ich sie anzulächeln, aber meine vermaledeiten Lippen wollten sich nicht bewegen. Ich würde mir eine Übung ausdenken müssen, um lächeln zu lernen.
»Du lächelst mich so traurig an …«
Ja, ich mußte mir wirklich eine Übung
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