Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Ihr Euren Kittel ablegen müßt! Nein, trocknet Eure Tränen! Ihr wollt die Fürstin doch nicht etwa betrüben? Sie hat in den letzten Jahren genug gelitten: ein Unglück nach dem anderen, bis hin zu Madre Leonora … So, so ist’s gut, geht hinein. Und lächelt doch, lächelt, und sei es auch nur, um die Fürstin nicht an ihre Trauer zu erinnern.«
Vielleicht hatte sie recht, ich sollte lächeln. Aber die Vorsicht lähmte mich vollkommen, und meine Lippen wollten sich nicht öffnen. Verwirrt von Quecksilbers Geschwätz und der Überraschung darüber, daß ich, obwohl ich lächeln wollte, die Lippen nur ein wenig verziehen konnte, fand ich mich plötzlich in einem Zimmer wieder, das so groß und voller Tische, Sofas, Sessel und Armstühle war, daß sich meine Verwirrung in Bestürzung verwandelte.
Es war niemand da, nichts als diese Möbelwüste: Auch hier empfing mich keiner. Resigniert erwartete ich Quecksilbers Rückkehr, weil ich allein inmitten all dieser gleich aussehenden Flure und Räume mein Zimmer niemals wiedergefunden hätte.
»Glaub mir, Maman, sie ist hübsch, nur ein wenig traurig, aber hübsch, wirklich!«
Vor mir tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein kleines blasses Gesicht auf, das von einer Flut blonder Haare, so fein wie Seide – auch hier Seide –, beinahe ganz verdeckt wurde. Dieses Wesen betrachtete mich von Kopf bis Fuß und ging dann um mich herum, so wie ich es im Garten mit den Statuen tat. Dann griff eine kleine Handnach meiner eigenen und führte mich sicher – Gott weiß, wie sie es schaffte, in diesem Wald aus Tischchen voller Statuen, Kästchen, Lampen nichts kaputtzumachen – zu der hohen Rückenlehne eines schmalen Armsessels. Dahinter fand ich mich plötzlich jener Fürstin gegenüber, die mir durch Quecksilber so viele Nachrichten hatte überbringen lassen. Sie sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Nur daß ich, wenn mich die kleine Hand nicht festgehalten hätte, geflohen wäre, als sie zu sprechen begann.
»Gott sei Dank ist sie nicht eine von diesen Mißgeburten, die unsere Klöster bevölkern! Gott sei Dank hat sie menschliche Züge! Und du, Cavallina, mein Pferdchen, hättest mir sagen können, daß sie normal ist. Zwar nicht schön, aber normal. Das hättest du mir ruhig sagen können.«
»Aber das habe ich dir doch gesagt, Maman, und Quecksilber hat es dir auch gesagt. Aber du glaubst ja niemandem.«
»Natürlich glaube ich niemandem. Ich bin ja auch von Tölpeln umgeben! Keiner hat meinen Geschmack oder den deines Vaters geerbt, Gott hab ihn selig. Komm einmal her, Mädchen … Wie heißt du? Wie? Modesta? O mein Gott, was für ein scheußlicher Name! Sei nicht beleidigt, Mädchen. Es ist nur so, daß mir kein Name … nun ja, es gibt keinen einzigen, der mir paßt. Oder besser, es gibt keinen Namen, der zu seinem Träger paßt. Sie stehen immer im Gegensatz dazu. Findest du es richtig, daß ich Gaia heiße? Was habe ich denn Fröhliches an mir? Aber Modesta, das ist wirklich scheußlich! Entschuldigung, ich … Cavallina, die ist ja mehr als normal! Jetzt, wo sie erregt ist … Bist du wegen des Namens beleidigt? Egal, jetzt, da dir diese Beleidigung, oder was immer esist, die Röte ins Gesicht getrieben hat, sieht es ganz so aus, als seist du richtig hübsch. Nun reicht es aber. Verschwindet! Ich bin müde. Der Anblick der Jugend ist ermüdend. Weg, abtreten!«
Die kleine Hand zog mich fort, und ich klammerte mich daran. Wir waren schon aus der Tür, als uns die Stimme hinterherdonnerte:
»Sieh mal einer an! Jetzt, wo sie läuft, sehe ich, daß sie auch anmutig ist. Hör mal, Cavallina, wo sie nun nicht häßlich ist, können wir sie auch mitnehmen, was meinst du?«
»Natürlich, Maman, darüber würde ich mich sehr freuen.«
»Gut! Fort mit euch! Ist genehmigt. Aber jetzt mir aus den Augen. Und du, hast du verstanden, Mädchen? Statt morgen die Spazierfahrt bis ins Dorf zu unternehmen, kannst du mit uns in die Mittagsmesse gehen. Aber bitte pünktlich! Und zieh um Himmels willen ein ordentliches Kleid an. Ein etwas fröhlicheres Kleid, wenn ich bitten darf. Denn dieses Blau ist so trist, daß mich die Trostlosigkeit eines Winterabends überkommen hat, seit du vor mir stehst. Los, macht, daß ihr wegkommt!«
22
Und wir machten, daß wir wegkamen, oder besser gesagt, die kleine Hand zog mich fort, denn ich hatte weder die Kraft stehenzubleiben noch mich zu bewegen. Die Hand zog mich über Korridore und Treppen, bis ich die Vorhänge des
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