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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Erlaubnis, nicht erlaube zu antworten.«
    »Dann antworte eben nicht, wenn du so dickköpfig bist. Aber ab heute mußt du sie hier, vor mir, Padrona nennen. Verstanden, Carmine? Padrona. Sag es.«
    »Ich soll das Fräulein Padrona nennen?«
    »Genau, Padrona.«
    »Da Eurer Durchlaucht soviel daran liegt, sie aber doch noch ein Mädchen ist, darf ich sie wenigstens Padroncina nennen?«
    »Na gut, aber jetzt geh, ich bin müde. Und du, was stehst du noch da herum wie ein Stock? Habe ich nicht gesagt, daß ihr gehen sollt? Du hast doch alles verstanden. Und gib dir Mühe, dir bei diesem Ehrenmann Respekt zu verschaffen.«

31
    Und um mir Respekt zu verschaffen, begann ich, auf den Karten des Besitzes die Gemarkungen, die Flächen und die Grenzmauern dieser immensen Ländereien zu studieren. Immer lief gerade irgendeine Klage. Die Fürstin hatte mir das Bürgerliche Gesetzbuch mit den Worten in die Hand gedrückt: »Schau es dir gut an, es ist die einzige Möglichkeit, sich von Anwälten, Maklern und Notaren nicht zu sehr bestehlen zu lassen.«
    Jeden Montag hörte ich Carmine zu, wenn er von neuen Anbaumethoden und der Ernte sprach … Es fehlten Arbeitskräfte aufgrund der allgemeinen Mobilmachung … Die Aufseher und Tagelöhner wollten immer mehr Geld … Auf den Feldern von Licata hatte man einLamm mit gebrochenen Beinen gefunden, das war eine Warnung: Man mußte sich mit ihnen auseinandersetzen, sonst würde alles Vieh im Wald von Ficuzza enden, und dort – wer hätte da einen Fuß hineinzusetzen gewagt – wäre daraus Dosenfleisch für die Front geworden. Südlich der Valle del Bove hatte ein Lavastrom viele Olivenhaine zerstört. Aus dem Norden kam nichts mehr. Wegen der Streiks im Fiatwerk stand alles still, und die Preise stiegen in schwindelerregende Höhen: Das Brot, das 1915 noch 53 Centesimi gekostet hatte, kostete inzwischen 56 Centesimi pro Kilo, Nudeln statt 71 jetzt 95 Centesimi. Und als ob das noch nicht genügte, hatte es im August auf dem Festland, genauer gesagt in Turin, sogar einen Aufstand wegen der Brotpreise gegeben.
    »Auch hier, das können Euer Durchlaucht mir glauben, steigt die Unzufriedenheit. Die Soldaten an der Front haben den Kopf voll von all diesen rebellischen Ideen. Und sie werden früher oder später zurückkehren … Die Gottlosen können sich auch hier erheben. Vergessen wir 1893 nicht. Und heute gibt es auf der ganzen Insel keinen Mann wie Crispi. Vergessen wir nicht, daß sie in Turin die Kirche des heiligen Bernhard geplündert und gebrandschatzt haben …«
    Inzwischen wußte ich, wer diese elenden Gottlosen waren. Und über diesen Crispi hatte ich gelesen, daß die Revolution von ihm blutig unterdrückt worden war. Das alles erfuhr ich von Jacopo. In einem Buch von Voltaire fand ich am Fuß einer Seite ein schwarz umrandetes Quadrat, in das er geschrieben hatte:
    »Ich sollte mich über den Sieg des blutrünstigen Crispi freuen, aber die Begeisterung der anderen findet in meiner Seele keinen Widerhall. Zu genau weiß ich, daß wir eine aussterbende Rasse sind, aber es wäre mir lieber, vonder Hand der Bauern zu sterben, als von den Verwaltern ausgesaugt zu werden. Denn das wird unser Ende sein.«
    Daß ich in seinem Zimmer Informationen finden würde, wußte ich längst, doch ich hätte mir nie vorstellen können, welche Schätze diese kleine Bibliothek barg. Ich mußte lernen, mich auf den Tag vorbereiten, an dem ich diesen Sozialisten begegnen würde. Sie sagten auch, daß Frauen und Männer gleichberechtigt seien. Am Rand einer Buchseite von August Bebel stand in Jacopos klarer Schrift:
    »21. Oktober 1913. Wie sehr habe ich versucht, wenigstens einige dieser Ideen Beatrice einzupflanzen! Aber es ist schwer, sie aus diesem barbarischen Umfeld zu lösen. Es wird wohl hundert Jahre dauern, bevor die Frau deine Stimme hören kann, alter August!«
    Diese leicht hingeschriebenen Zeilen, die die Zeit manchmal fast ausgelöscht hatte, verschlang ich, als ob ich Beatrice sei … Ich nahm ihr den Platz weg. Ich hörte Jacopos Stimme, die mich von diesen Blättern her anleitete, nicht kreuz und quer zu lesen, wie er sagte, sondern mit System, und zwar mit seinem System. Am Ende von Candide hieß es in einer Notiz: die Gedanken zur Interpretation der Natur von Diderot noch einmal lesen. Als ich dieses Buch öffnete, sprang mir das: »Junger Mann, nimm und lies«, sofort ins Auge, aber vor allem bewegte mich das Postskriptum: »Noch ein Wort, dann verlasse ich dich.

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