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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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zugeben, daß Euch nichts entgeht. Die Diagnose war beinahe richtig. Zwar nicht Faulheit, nein, aber eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit, die mir erlaubte, meine Handlungen zu hinterfragen. Ich will Euch das erklären. Seit vielen Jahren schon steht meine Berufungals Arzt im Widerspruch zu einer Realität, die diesem Beruf den Heiligenschein nahm, mit dem ich ihn in meiner Jugend umgeben habe. Ich habe gemerkt, daß Arzt sein in unserer Gesellschaft nichts anderes bedeutet, als die Schäden auszubessern, die die Arbeitsbedingungen in den Bergwerken und Fabriken, Vorurteile, Armut und Schmutz mit einer Geschwindigkeit verursachen, die die guten Absichten eines einzelnen kleinen Arztes weit hinter sich läßt. Was nützt es, im Lauf eines Lebens hundert Menschen gerettet zu haben, von denen neunundneunzig reich oder wohlhabend sind, wenn man eingesehen hat, daß die Medizin unterschiedslos dem Leid aller vorbeugen müßte? Der Beruf des Arztes gleicht unter diesen Bedingungen dem eines Missionars, der nach Afrika geht, um Leprakranke zu heilen und ein paar Seelen zu retten … vor allem seine eigene! Denkt man genau darüber nach, sind das Toren: Wenn sie den Schmerz wirklich ausmerzten, wie könnten sie sich dann weiter an ihren Spielereien, die sie die Seele, das Böse und die Erlösung nennen, ergötzen? Das war nur ein Scherz. Auch weil ich schulmeisterlich werde. Und um diesen überaus schulmeisterlichen Vortrag zu beenden: Der Arztberuf ist nur dann etwas wert, wenn er von politischem Engagement mit dem Ziel begleitet wird, für alle Menschen gesunde und bewohnbare Häuser und funktionierende Krankenhäuser zu erkämpfen. Um das zu erreichen, muß man handeln, mit aller Kraft handeln. Es gibt keinen anderen Weg.«
    »Ist das Sozialismus?«
    »Ja, aber ich sehe Euch gedankenvoll. Ich befürchte, Euch gelangweilt zu haben.«
    »Ihr wißt genau, daß Ihr mich nicht nur nicht gelangweilt habt, sondern … Seid nicht kokett!«
    »Ihr habt recht.«
    »Ihr greift zur Koketterie, weil ich eine Frau bin, und das legt Euch die Annahme nahe, daß Eure Ausführungen zu tiefschürfend sind für …«
    »Getroffen. Ich bitte um Verzeihung. Doch man begegnet so selten einer Frau wie Euch! Unter den Sozialisten gibt es außergewöhnliche Frauen, wirklich außergewöhnliche, aber es sind leider erst wenige!«
    »Ihr habt mir Schwimmen beigebracht, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Würdet Ihr mir beibringen … Würdet Ihr mir einige dieser Sozialisten vorstellen?«
    »Ich möchte Euch die Hand küssen. Was für eine schöne Hand! Danke, daß Ihr sie nicht zurückgezogen habt. Ich liebe Euch, Fürstin!«
    »Aber wart Ihr nicht in Beatrice verliebt?«
    »Ich habe Beatrice von ganzem Herzen gern, aber als ich Euch reden hörte, habe ich gemerkt, daß ich Beatrice benutzt habe, um zu Euch zu gelangen. Vergebt mir. Nein, zieht die Hand nicht weg. I am not fond in love . Ich habe im Namen der Liebe schon zu sehr gelitten. Wenn Ihr vorhabt, mir alle Hoffnung zu rauben, dann erlaubt mir, nicht mehr hierherzukommen. In der Stadt gibt es viele Ärzte. Ich gehe jetzt, Fürstin. Nein, seid mir nicht böse, wenn ich morgen nicht komme. Es besteht keine Hoffnung, das sehe ich. Haltet mich von mir aus für feige, aber nehmt es mir nicht übel, denn ich habe Euch eine Stunde lang geliebt.«

43
    Die erste Woche ohne Carlo
    »Kommt er wirklich nicht mehr? Warum denn nicht, Modesta?«
    Es war besser, nicht zu antworten … »Haltet mich für feige, aber nehmt es mir nicht übel, denn ich habe Euch eine Stunde lang geliebt!« Dieser schmächtige Junge mit dem schlaksigen Gang hatte Charakter.
    Die zweite Woche ohne Carlo
    »Also stimmte es, was du über ihn herausgefunden hattest? Das war kein Scherz?«
    »Was habe ich denn herausgefunden, Beatrice?«
    »Hast du das etwa vergessen? Komm schon, natürlich erinnerst du dich! Daß er Sozialist ist! Deshalb hast du ihn davongejagt?«
    »Du selbst hast mich darauf aufmerksam gemacht, daß wir glücklicherweise keinen von diesen Gottlosen kennen.«
    »Also stimmte es? Kaum zu glauben. Wie schade, er war so fröhlich!«
    Es war besser, nicht zu antworten.
    »Warum antwortest du mir nicht mehr, sobald ich über ihn rede? Wenn du dich so benimmst, bist du unerträglich! Dann erinnerst du mich an Großmutter Gaia. Du bist genau wie sie, verschlossen und egoistisch. Nie denkst du an mich.«
    »Und wieso denke ich nie an dich?«
    »Überhaupt nicht! Was interessiert es dich, wenn Carlo nicht mehr kommt. Du

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