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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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eingeborenen Elementen verwässerte Rasse, eine Rasse, die von Kälte und strengen Sitten verlesen wurde.‹ … und von den ständigen Diebstählen, fügte ich in Gedanken am Ende dieser Predigt hinzu, die uns irgendein Onkel mindestens dreimal pro Woche vor dem Abendessen hielt. Du lachst, Beatrice? Da gibt es wenig zu lachen. Ich hätte dich sehen mögen! Ich fürchtete mich so vor dieser starken Rasse! Und dann die Frauen! Noch heute erinnere ich mich an die Angst, die mir die Stimme meiner Großmutter einjagte. Eine solche Angst, daß ich nach ihrem Tod nicht ihr Gesicht, sondern nur ihre Stimme im Gedächtnis behielt. Und das, obwohl ich sie während meiner gesamten Kindheit beim Frühstück, beim Mittagessen und beim Abendessen vor mir sitzen hatte. Ja, lach nur, lach! Aber ich habe bis heute die schreckliche Stimme von Großmutter Valentina im Ohr, die mich andonnert: ›Das ist ja ein Zwerg! Dieses Kind wächst nicht!‹ Und so mußte ich ständig Koteletts hinunterwürgen. Der Geruch von Fleisch drang mir aus allen Poren. Und das mir, der ich Fleisch immer gehaßt habe! Oder vielleicht habe ich es seitdem gehaßt? Das ist unwichtig, Psychologie interessiert mich nicht. Mein Gott, wie langweilig all diese leicht psychologisierenden Romane sind! Überlassen wir die unserer lieben Genossin Montessori. Die ist vielleicht langweilig!«
    »Wer ist diese Montessori?«
    »Eine von unseren Genossinnen, die sich mit Kinderpsychologie beschäftigt. Ich habe noch nichts von ihr gelesen, aber alle sagen, es sei interessant. Sie hat eine neue Methode der Kindererziehung erfunden, glaube ich. Das scheint Euch zu interessieren, Fürstin. Ich werde Euch ihre Schriften besorgen.«
    »Euch interessiert das nicht, weil es eine Frau geschrieben hat?«
    »Nein, nein, Fürstin, ich habe gesagt, daß die Psychologie mich nicht interessiert.«
    »Puh, jetzt streitet ihr schon wieder. Laß sie, Carlo. Erzähl mir von der Großmutter Valentina und dem Clan. Waren das Engländer?«
    »Von wegen Engländer, aus einem barbarischen Norden kamen sie, beladen mit Hausrat und Federvieh, und bliesen in ihr Horn, um sich einen Weg über die Alpen zu bahnen. Du hättest die Handgelenke meiner Großmutter sehen sollen, wenn sie zur Muskete griff, um einen verirrten Hühnerdieb zu verjagen, oder wenn sie in der großen Küche das Messer schwang, um selbst das Fleisch für den Zwerg auszusuchen …«
    »Als du klein warst?«
    »Klein? Das ging so, bis ich vierzehn Jahre alt war, Beatrice! Sie packte mich am Ohr, zog mich zu sich heran und schrie: ›Willst du Zwerg nun endlich wachsen?‹«
    »Du, ein Zwerg?«
    »Ja, und ich habe ihr geglaubt! Später in Padua und Mailand, in der zivilisierten Welt also, verstand ich, daß ich zwar nicht riesig, aber auch kein Zwerg war. Dort jedoch, inmitten all dieser blonden, hochgewachsenen Onkel und Vettern …«
    »Aber du bist dunkel.«
    »Daran ist meine Mutter schuld.«
    »O mein Gott, wie komisch du bist, Carlo. Modesta, hast du gehört, wie er das gesagt hat?«
    »Das war jedenfalls die ständige Rede von Großmutter Valentina: Schuld meiner Mutter, vor allem jedoch meines Vaters, der ein sehr tüchtiges und ehrbares Familienmitglied war, aber zerstreut und ohne den geringsten Realitätssinn, immer nur an seinem Mikroskop interessiert. Und in seiner Zerstreutheit hat er sich in Mailand, der Stadt des Teufels, in ein kleines schwarzes Zwergenmädchen verliebt, das überdies noch aus Neapel kam, auch wenn es adelig und reich war. Bambolina hat die Großmutter sie mit geheuchelter Freundlichkeit genannt: ›Nein! Bambolina ist zerbrechlich, es ist besser, wenn du gehst. Bambolina ist heute schon zweimal die Treppe hinuntergestiegen. Sie ist zart, ich möchte nicht, daß sie krank wird wie letztes Jahr!‹ Aber mir war dieser Name teuer, denn sie sah mit ihren schwarzen Locken, dem rosigen Mündchen und den Wimpern, die so lang waren, daß sie Schatten auf die Wange warfen, wenn sie den Blick senkte, wirklich wie eine Porzellanpuppe aus. Ich erinnere mich daran, daß ich sie schon mit vierzehn Jahren in ihr Zimmer hinauftragen konnte, wenn sie müde war. Und auch daran, daß ich es war, der sie das letzte Mal aus dem Sessel gehoben hat, in dem sie zu schlafen schien. Da ist es mir nicht aufgefallen. Sie war nur ein wenig schwerer als sonst.«
    »War sie gestorben?«
    »Ja, an der Schwindsucht. Von ihr habe ich außer meinem zwergenhaften Wuchs auch die schwachen Bronchien. Das haben sie jedenfalls gesagt.

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