Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
offen.
Jonas lief.
Einer der Jünger bellte etwas. Weniger als ein Wort.
Jonas stürzte auf das Tor zu. Die Kutte behinderte ihn. Er hörte die Schritte hinter sich. Er rannte. Die Lichter der Fackeln schossen an ihm vorbei, Schlieren, Feuerschweife. Die Schritte hinter ihm wurden lauter.
Er passierte das Tor, lief weiter, blieb stehen. Das zweite Tor war verschlossen! Wie eine Wand ragte es vor ihm auf.
Wohin?
Jonas hörte sich keuchen. Er riskierte nicht einmal den Blick zurück. Rechts wie links verlief ein schmaler Gang zwischen den hohen Mauerringen. Er lief nach links, in tiefste Dunkelheit hinein. In dem schmalen Gang zwischen den Mauern hallten seine Schritte wie Donnerschläge. Er hetzte voran, die Jünger im Nacken.
Er hatte es nicht geschafft! Er hatte Ruben nicht gefunden! Er würde selbst in Gefangenschaft geraten! Hüte dich vor dem Hirten!
Der Gang endete abrupt vor einer Mauer. Plötzlich standen Jonas Tränen in den Augen. Es war vorbei! Dann entdeckte er die Stiege. Wie Nester klebten die Stufen seitlich an der Mauer und führten steil hinauf, hoch in die regennasse Dunkelheit.
Es gab nichts zu überlegen. Jonas raffte die lästige Kutte und stolperte hinauf. Es gab kein Geländer. Er musste sich in Acht nehmen. Er nahm die Hände zu Hilfe. Stufe für Stufe. Hinter sich hörte er die Jünger keuchen. Sie waren so nah!
Jonas’ Hand griff ins Leere und er verlor das Gleichgewicht. Unter den Händen spürte er nasses, glitschiges Holz. Er hatte ein Podest erreicht, eine Art Plattform, ein ganzes Stück unterhalb des Mauerfirsts. Er rappelte sich auf. Vor ihm ein hölzernes Geländer, darunter, tief unten, der Kanal. Der Regen prasselte auf das schwarze Band des Wassers.
Springen? Sollte er springen?
Jonas drehte sich um. Die Jünger standen vor ihm wie eine Wand.
Jonas schloss die Augen. Zu spät.
Als er sie wieder öffnete, kam es ihm vor, als stieße ein großer Vogel auf ihn herab. Eine Gestalt schwang sich vom Mauerfirst und landete mit einem gewaltigen Poltern genau zwischen ihm und den Jüngern. Jonas taumelte zurück bis an das hölzerne Geländer der Plattform. Die Gestalt trug einen Hut. Ein untersetzter Mann mit breiten Schultern.
»Verdammte Banditen!«, schimpfte er und baute sich vor den Jüngern auf.
Die Jünger wichen zurück.
»Ihr seid nicht!«, zischte der Mann. Das klang wie ein Befehl.
Jonas klammerte sich an das Geländer.
»Ihr seid nicht!« Der Mann sprach jetzt leise und bedrohlich.
Ein Jünger ging in die Knie. Der andere wand sich wie unter Schmerzen.
»Gespinste«, flüsterte der Mann mit dem Hut. »Ihr seid nicht!«
Jonas lief ein Schauer über den Rücken. Wie ein Zauberer klang der Mann, wie Zaubersprüche das, was er sagte.
»Gespinste.«
Die Jünger waren zu Boden gegangen. Jonas hörte sie wimmern. Er zwinkerte, dann waren sie fort. Weg. Spurlos verschwunden. Er rieb sich die Augen. Dort, wo die beiden Jünger sich eben noch gewunden hatten, war nur noch Holz, auf das der Regen trommelte.
Jonas lehnte sich schwer gegen das Geländer. Dann sank er selbst auf die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht. Sein Kopf war leer, unendlich leer. Erst nach und nach spürte er wieder den Regen in seinem Nacken.
»Steh schon auf.« Der Mann war an ihn herangetreten. Das Wasser triefte von der breiten Krempe seines Huts.
Jonas gehorchte. Mühsam kam er auf die Beine. Er sah zu dem Mann hoch, erkannte einen langen, tropfenden Schnurrbart.
»Du bist ein sagenhafter Dummkopf«, grollte der Mann.
Jonas starrte ihn bloß an.
»Du hast nichts verstanden. Gar nichts.« Ohne Vorwarnung trat der Mann wuchtig gegen das Geländer. Das Holz splitterte. Dann trat er noch einmal. Die Latten brachen, fielen. Tief unten hörte Jonas sie auf die Wasseroberfläche klatschen. »Und jetzt ab. Anders kommst du hier nicht raus.«
Unendlich langsam wand Jonas den Kopf. Er verstand nicht. Er war so müde. So erschöpft.
»Jetzt spring schon, du Schwachkopf!«
Jonas sah auf das schwarze Wasser dort unten. Es würde ihn einfach verschlucken.
»Was?«, krächzte er.
Aber da hatte der Mann ihm schon einen Schubs gegeben und Jonas flog. Er war in der Luft. Hoch über dem schwarzen Kanal.
Das 33. Kapitel
Das Gedankentheater
Das Wasser platzte. Dann schwebte er immer tiefer hinab wie auf den Grund eines Traums. Der Fehler war zu atmen. Hustend und spuckend tauchte Jonas wieder auf, schnappte nach Luft, hustete wieder. Wie ein Köder an irgendjemandes Angel trieb er
Weitere Kostenlose Bücher