Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
schließlich an der Oberfläche. Regen sprenkelte das Wasser, ein Streifen Mondlicht schaukelte auf dem Kanal. Plötzlich war ihm fürchterlich kalt. Einmal noch sah er zur Klostermauer hinauf, doch da war nichts außer dem Schattenriss des geborstenen Geländers. Sein unheimlicher, raubeiniger Retter war spurlos verschwunden.
Jonas trieb richtungslos davon, schneller werdend, auf ein unsichtbares Gurgeln zu, das nach und nach zu einem Rauschen wurde. Die vollgesogene Kutte zerrte an ihm, aber immer noch war Jonas wie gelähmt. Was seine Arme und Beine taten, taten sie von selbst. Sein Kopf war immer noch leer.
Kaum dass Jonas das Wehr unter der Klostermauer ausmachen konnte, war er schon hindurch, schlug sich den Ellbogen an, wurde kalt überspült und dann hustend wieder ausgespuckt. Blind trieb er durch ein stilles Gewölbe, in das der Regen nicht drang. Immer wieder schluckte er Wasser und sein Husten hallte von den unsichtbaren Mauern zurück.
Erst als das Mondlicht ihn wieder einfing, kam er halbwegs zu sich. Er spürte die feinen Stiche des Regens und fühlte sich mit einem Mal schrecklich verloren. Die Klostermauern lagen hinter ihm, vor ihm der stille, schnurgerade Kanal, die Wasserstraße der Flüsterstadt. Die Arme wurden ihm schwer. Plötzlich sehnte er sich geradezu nach Ole und Fiet, nach den stickigen Räumen ihres Verstecks und den vernagelten Fenstern.
Bibbernd sah Jonas zur Kaimauer hinüber. Das Wasser stand tief. Er würde nicht bis an die Mauerkante reichen können. Dort hochstemmen konnte er sich also nicht. Aber er musste doch raus aus diesem Kanal! Bei Brand, fiel ihm ein, hatte er an einem frühen Morgen einmal eine Maus gefunden, die über Nacht in einem halbvollen Eimer ertrunken war. Mit einem Span hatte er sie aus dem Wasser gefischt, ein schlaffes Etwas mit durchnässtem Fell und aufgeweichten Pfoten. Ein paar Züge lang schwamm er mit der Kraft der Verzweiflung, dann zwang er sich, ruhiger zu werden.
Er spähte zur anderen Seite hinüber. Ein mächtiges Gebäude grenzte dort direkt an den Kanal. Jonas versuchte, sich den großen Platz, die Mitte des alten Callamaar, in Erinnerung zu rufen. Das Gebäude konnte das Theater sein, er hatte es auf dem Weg zum Kloster passiert. Für einen Augenblick stürzte alles wieder auf ihn ein – die Prozession der inbrünstig betenden Jünger, der zu Tode erschöpfte Monokel im Hof, die Flucht und der Mann mit dem Hut, der ihn gerettet hatte.
Gerettet. Aber wie? Durch … Zauberei? Er erinnerte sich – Fiet hatte von einem Mann gesprochen. Jemandem, der nach ihm fragte … Jonas wischte sich schnell durch das nasse Gesicht und schwamm dann weiter. Die Jünger waren einfach verschwunden, dachte er. Sie hatten sich aufgelöst . Er wollte lieber gar nicht daran denken.
Im dünnen Mondlicht schien das Gerippe eines Geländers auf. Von der Rückseite des Theaters führte es fast bis ans Wasser hinunter. Eine Anlegestelle vielleicht, für längst versunkene Boote. Jonas sammelte die ihm verbliebenen Kräfte und schwamm darauf zu. Er musste so schnell wie möglich vom Kloster weg. Er musste Ole finden.
Immer noch regnete es Nadeln. Jonas fror, die Kutte war schwer. Er hatte Ruben nicht befreit.
Klatschend schwappte der Kanal an die nackten Mauern des großen Gebäudes. Noch bevor das Geländer in seine Reichweite kam, schlug sich Jonas das Knie an. Stufen! Er hatte Stufen unter den Füßen! Da führte eine Treppe ins Wasser hinein! Das Knie tat gleich nicht mehr weh.
Jonas richtete sich auf. Die Kutte klebte ihm am Körper und das Wasser lief nur so an ihm hinab. Er bekam das Geländer zu fassen. Rost zerbröselte unter seinen kalten, tauben Fingern. Im Schatten der hoch aufragenden Hauswand atmete er durch und warf einen Blick zum Kloster hinüber. Dort unter der fetten schwarzen Mauer floss der Kanal hindurch. Drüben an der Brücke vor dem großen Klostertor rührte sich nichts. Jonas wurde nicht verfolgt. Der Mann mit dem Hut hatte ganze Arbeit geleistet.
Tropfend erklomm Jonas die Stufen und erreichte eine Tür. Einen anderen Weg gab es nicht. Er griff nach der Klinke, zum Glück ging die Tür auf. Er trat in einen finsteren Korridor und tastete sich Schritt für Schritt weiter. Durch die offene Tür rauschte der Regen, Kanalwasser schwappte in seinen Schuhen. Drinnen war es angenehm trocken, die Luft war abgestanden, aber von der Hitze des Tages noch warm.
Wie ein Blinder streckte Jonas die Arme vor und nach wenigen Metern gelangte er an
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