Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
Draußen. Magst du mitkommen?«
Jonas nickte unglücklich.
Immerhin wartete Ruben draußen vor der Tür. Als Jonas hinaustrat, kniete der Diener sich vor ihn hin, rückte ihm die Mütze zurecht und fasste ihn an den Schultern. Fragend wanderten seine Augenbrauen dabei in die Höhe. Aber was antwortet man auf eine Frage, die mit den Augen gestellt wird?
Jonas versuchte zu lächeln und scheiterte kläglich. Er spürte, wie Rubens große Hände aufmunternd seine Oberarme drückten. Die Berührung tat gut.
Dann formten Rubens Lippen ein O. Wie gestern Nacht, als sie angekommen waren.
Komm!
Zu dritt liefen sie die Auffahrt hinab, weg von Wunderlichs dicken Mauern, und Jonas war plötzlich nicht mehr ganz so schwer ums Herz. Die Auffahrt war mit Kieseln bestreut. Vielleicht könnte er hier den Grafen Irmingast finden, den neuen Feind des Wieflinger. Ein schwarzer Kiesel wäre dafür gut. Oder wenigstens ein dunkler, ein hinterhältig grauer. Einer, den man auf dem Teppich in seinem Zimmer nicht gleich sähe.
Peregrin Aber schwang derweil seinen Stock und gab das Tempo vor. Ruben hatte eine Hand auf Jonas’ Schulter gelegt. Er trug wieder den doppelt geknöpften Mantel und der Wind wirbelte in seinem Haar. Jonas wäre gern noch lange so weitergegangen, einfach immer geradeaus.
Nachdem sie das Tor durchquert hatten, wandte sich Peregrin Aber nach rechts und sie folgten der Mauer. Weit und breit gab es nichts zu sehen als mattes, gelblich graues Gras, das sich steif vor Erschöpfung an die hart gefrorenen Hügel klammerte. Am Himmel darüber türmten sich Wolken wie Gebirge aus Blei. Ein Schwarm Krähen trudelte herab, dann trug der Wind die Vögel wieder hinauf. Auf und ab ging das. Auf und ab.
Zwei Schritte voraus, pfiff der unverwüstliche Peregrin Aber ein Lied. Fetzen davon wehten zu Jonas herüber.
Schließlich erklommen sie den Hügel, dessen Kuppe Jonas schon von seinem Fenster aus gesehen hatte. Es ging zu der Weide hinauf, in der am Morgen die Krähen gehockt hatten. Nur ein paar Schritte von ihrem Stamm entfernt friedete ein aus Gusseisen geschmiedeter Zaun einen kleinen Flecken Erde ein. Über den Grabstein, der zwischen den Gittern stand, strichen die Äste der Weide. Jonas ahnte, wer hier begraben lag.
Peregrin Aber blieb vor dem Zaun stehen und faltete die Hände vor dem Bauch. Wortlos gesellten sich Jonas und Ruben zu ihm und Jonas las die in den Stein gemeißelte Grabinschrift. Es waren nur ein paar wenige Worte:
CLARA
SCHAU IN DIE FERNE
Jonas hätte gern gefragt, was diese Inschrift bedeutete, aber weil Peregrin Aber so andächtig schwieg, hielt er lieber den Mund. Vielleicht hätte er jetzt traurig sein müssen, immerhin hatte die Frau dort unter der Erde gewusst, dass es ihn gab, und in ihren letzten Stunden an ihn gedacht. Aber Jonas war nicht traurig. Nicht wegen Clara jedenfalls. Er sah über das Grab hinweg bis dahin, wo Himmel und Erde sich in einer feinen Linie trafen. Dann schloss er die Augen und spürte den Wind an seinen Wangen. Er wusste nicht einmal, wie Clara ausgesehen hatte.
»Hier liegt sie«, sagte Peregrin Aber nach einer kleinen Ewigkeit. »Sie war eine gute Frau, Jonas. Sie hatte ein großes, gutes Herz. «
Dann kehrte wieder Stille ein. Nur die Weide über ihnen rauschte. Ihre Zweige schwangen hin und her.
»Es ist eine seltsame Grabinschrift, nicht wahr?«, fing Peregrin Aber schließlich wieder an. »Du willst bestimmt wissen, was sie bedeutet. Aber leider verstehe ich sie selber nicht. Clara hat sie sich gewünscht. Ich nehme an, Ruben könnte uns erklären, was sie damit meinte. Aber er wird es uns nicht verraten. Oder? … Ruben?« Peregrin Aber sah zum Diener hinauf.
Aber Ruben stand wie versteinert da, den Blick in die Ferne gerichtet – so wie es auf dem Grabstein stand. Es war, als hätte er den Advokaten gar nicht gehört.
»Woran ist sie gestorben?«, krächzte Jonas. Seine Stimme war plötzlich belegt.
Peregrin Aber trat einen Schritt näher ans Grab und legte eine Hand auf das schmiedeeiserne Gitter. »Am Schlagfluss«, sagte er. »Letzten Endes. Vor zwölf oder dreizehn Jahren hat sie der Schlag getroffen. Seitdem saß sie im Rollstuhl. Ein kleines Wunder, dass sie noch so lange gelebt hat.«
Jonas nickte, als verstünde er. »Wieso hat Alma das Haus nicht bekommen?«, fragte er dann. »Mochte Clara Alma nicht?« Jonas konnte sich sehr gut vorstellen, dass man Alma nicht mochte.
Peregrin Aber zuckte mit den Schultern. »Genau weiß ich es nicht,
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