Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
starrte auf den Fleck, wo eben noch der Fängge gewesen war. Die Flüsterstadt verdiente ihren Namen. Sie war aus Angst gebaut.
Weiter ging es durch die labyrinthischen Gassen, und mehr und mehr kam Jonas die Stadt vor wie ein Raum ohne Tür, in dem die Stille, wie Wasser, langsam bis zur Zimmerdecke stieg.
Schließlich bogen sie in eine enge Sackgasse ein. An ihrem Ende erhob sich ein Turm, der aussah wie ein hoch aufgeschossener, ausgezehrter Greis. Krumm und schief, gehüllt in das ewige, alles bestimmende schmutzige Braun, schien er sich auf die viel kleineren Häuser der Umgebung zu lehnen, um doch in naher Zukunft einfach durchzubrechen. Eines der Häuser auf Höhe seiner wackligen Knie war schon eingestürzt, brockenweise waren die Mauerreste bis auf die Gasse gerollt. Bloß ein paar Grundmauern, die alte Rückwand und ein einsamer Stützpfeiler waren stehen geblieben.
Mit der Schulter gab Ole Jonas einen Stoß, und sie zogen sich unter das tief herabgezogene Vordach eines Hauses zurück, das dem Turm schräg gegenüber lag.
»Das war Lunettes Turm«, flüsterte Ole, als sie sich vorsichtig gegen die Hauswand lehnten. »Hat er dir von der Sternwarte erzählt?«
Jonas nickte. Er hatte noch im Ohr, wie der Marquis von der Gründung Callamaars erzählte. Was war nur aus der Hauptstadt der Sieben geworden! Jonas ließ den Blick schweifen, von der Spitze des wunden Turms hinab, über die Häuser, die sich um ihn drängten, bis auf die von den Trümmern übersäte Gasse. Er blinzelte. Er schaute noch einmal hin.
»Ole!«, entfuhr es ihm dann. Die Mauerbrocken waren voller Augen! Fünf, sechs, sieben Augen! Mehr, noch mehr! In jeden Ziegel, jeden mörtelverklebten Mauerrest, der auf der Gasse herumlag, schienen sie sich eingenistet zu haben! Ihre Lider schlugen wie winzige Flügel.
»Verdammt noch mal!« Ole klang halb ungläubig und halb entsetzt.
»Können sie uns sehen?« Jonas drückte sich so fest gegen die Hauswand in seinem Rücken, als wollte er in ihr verschwinden.
»Nein.« Fahrig schüttelte Ole unter der Kapuze den Kopf. »Ich glaube nicht.« Aber er schien sich nicht sicher zu sein. Pfeifend stieß er Luft aus. Eben noch hatte er sich besonnen seinen Weg durch die Stadt gebahnt, jetzt schien seine ganze Selbstsicherheit dahin. »Ich habe noch nie so viele auf einem Fleck gesehen. Nicht gut. Das ist gar nicht gut. Es sieht fast so aus, als bewachten sie den Weg zum Turm.« Ole wandte sich Jonas zu, und zum ersten Mal, seit sie das Stadttor passiert hatten, sah Jonas in sein Gesicht. Es wirkte nicht bloß ratlos. Es war so grau wie gestern, als Faramund in Kanaria erschienen war.
»Ich dachte, Fiet wäre in der Sternwarte«, murmelte Ole. »Aber an den Augen da kriegen mich keine zehn Pferde vorbei.«
»Und jetzt?« Jonas’ Hände zitterten in den weiten Ärmeln seiner Kutte. Etwas Unvorhergesehenes war geschehen. Vielleicht war Fiet Finger gar nicht mehr in der Flüsterstadt. Vielleicht war er gefangen worden. Vielleicht waren die Rebellen schon lange besiegt.
Rücklings schob sich Ole an der Hauswand entlang, weg vom Turm und den wimmelnden Augen im Geröll.
Jonas folgte. Jetzt zitterten auch seine Knie. Plötzlich war ihm vor Angst so schwindlig, dass er für einen Moment die Augen schließen musste.
Als er sie wieder öffnete, wurde die Tür in Oles Rücken mit einem Ruck aufgerissen. Eine Hand schoss heraus und verkrallte sich in Oles Kutte. Einen Wimpernschlag lang sah es so aus, als würde Ole schweben, waagerecht lag er in der Luft. Dann hörte Jonas ihn im Haus zu Boden gehen. Und nur einen Augenblick später erkannte er, wer ihnen da hinterrücks aufgelauert hatte. Der Jünger Faramunds war nicht größer, aber viel stärker als er.
Das 29. Kapitel
Peregrin Aber erobert eine Insel
Peregrin Aber hatte kein Ohr für dieses einzigartige Geräusch, wenn etwas über eine Holzbrücke rollt – seine Lage war dafür zu unbequem. Ein Kissen in den wehen Rücken gestopft, saß er in Arnes roter Schubkarre, und Arne schob ihn wortlos über den Steg. Peregrin Aber kam sich vor wie ein Sack Kartoffeln. Um seine Würde bemüht, hielt er das Gespräch mit Tabbi mühsam in Gang. Wenigstens konnte er noch so klingen, als hätte er der Dame den Arm gereicht und als spazierten sie unbeschwert plaudernd zum Boot.
Nicht dass Peregrin Aber nach einer Plauderstunde zumute gewesen wäre – immerhin hatte er eine schlaflose Nacht auf der Küchenbank verbracht, unfähig, ein Bett auch nur zu erreichen.
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