Die Unzertrennlichen
einer ehemaligen Operettensoubrette, die vor Jahrzehnten ein paarmal auf zweitklassigen Bühnen gesungen hatte, bevor sie nach ihrer Eheschließung mit dem Veterinär ihre Laufbahn beendete, was sie nicht davon abhielt, sich seit Jahrzehnten als Frau Kammersängerin titulieren zu lassen.
Die Ernüchterung ging weiter. Ich las seit einer halben Stunde. Regina, die mir so verbunden, mit der ich so vertraut gewesen war, hatte mir nie von einer Schwangerschaft erzählt. Der Gedanke, sie und Stefan könnten eine Bereicherung ihres Lebens durch ein Kind nötig gehabt haben, war mir niemals gekommen, ich war davon überzeugt gewesen, dass sie einander in ihrer gegenseitigen Hingabe völlig genügten. Insofern war es überraschend für mich zu erfahren, dass Regina ein Kind erwartet hatte – und noch frappierender, dass sie einen Abbruch der Schwangerschaft herbeigeführt hatte. Es passte nicht zu meiner Einschätzung ihrer Person. Sie war für mich von großer Vitalität gewesen, und ich hatte den Eindruck gehabt, dass sie sich unwiderstehlich zu allem Lebendigen hingezogen gefühlt, es ohne jeden Vorbehalt bejaht hatte. Ich war blind gewesen.
Dennoch: Je mehr ich durch sie selbst über sie erfuhr, desto größer wurde meine innere Gelassenheit, desto weniger brachten mich ihre Sätze aus der Fassung. Ich hörte einfach auf, mich zu entrüsten, zu empören, schockiert zu sein. Es ging ganz von selbst, ich brauchte mich nicht um Selbstbeherrschung zu bemühen. An die Stelle von Zorn, Bestürzung, Gekränktheit traten eine Art unpersönliche Anteilnahme, eine distanzierte Aufmerksamkeit. Ich begann meine extreme Desillusionierung als etwas Interessantes zu empfinden. Die Entdeckungen, die ich machte, waren niederschmetternd, aber auch erhellend, aufregend. Ich hatte Blut geleckt, würde weiterlesen. Ich konnte es aushalten. Wenn man diese erbarmungslosen, vernichtenden Sätze mit genügend innerem Abstand las, erfuhr man Aufschlussreiches über die Abgründe der menschlichen Natur. Aus erster Hand. Es war ein Verlust der Unschuld. Wahrscheinlich war es Zeit dazu. Regina war eine Sadistin gewesen. Eine grandiose Schauspielerin, die Zuneigung, Freundschaft, Güte, Mitgefühl vollendet und für nahezu jeden glaubhaft dargestellt und ihre Herzlosigkeit, ihre Selbstsucht, ihre Grausamkeit meisterhaft kaschiert hatte. Und Stefan? War er das ideale masochistische Gegenstück zu ihr gewesen? Es hatte ganz den Anschein. Oder waren die Rollen umkehrbar?
Dass er versucht hatte, die Tür von Reginas Zimmer einzuschlagen, konnte ich nachempfinden. Es war eine Reaktion auf ihre Gefühlskälte und Rücksichtslosigkeit gewesen. Immerhin hatte er nicht sie angegriffen, sondern seine Aggression gegen ein unbelebtes Objekt gerichtet. Ich verstand nun auch besser, weshalb dieser auf Frauen sehr anziehend wirkende Mann seit Reginas Verschwinden keine engere Beziehung mehr angefangen hatte. Er war übermäßig stark von ihr abhängig gewesen, hatte sehr viele Kränkungen und Demütigungen hingenommen. Nun war er misstrauisch. Dass er mit mir zusammen war, war vielleicht nur möglich, weil ich eine Brücke zu Regina bildete, sie gut gekannt hatte, weil er wusste, dass ich sie, ebenso wie er, grenzenlos bewundert hatte, ihr absolut ergeben gewesen war. Wieder empfand ich Anteilnahme für diesen Mann, der den zerstörerischen Launen seiner Ehefrau ausgeliefert gewesen war, sich nicht dagegen hatte wehren können, an seiner Zuneigung zu ihr festhielt.
Ich öffnete die nächste Datei, 1999, scrollte hinunter und ging mit dem Cursor an den Anfang eines beliebigen Absatzes.
»Wir werden ein altes Bauernhaus im Sausal kaufen. Ich habe es Stefan vorgeschlagen, ihm eingeredet, daß es immer mein Bedürfnis war, in dieser bezaubernden, mir seit so langer Zeit vertrauten Landschaft zu leben. Daß ich mich aufgrund der langen Freundschaft mit Sissi an diese Region gebunden fühle, an ihr hänge. Der Ahnungslose ist glücklich, mir diesen Wunsch erfüllen zu können, er ist davon überzeugt, daß uns in der veränderten Umgebung ein Neuanfang gelingen wird. Was für ein Narr! In Wahrheit liegt mir daran, nicht ständig in Wien sein zu müssen. M. wird immer aufdringlicher, er beginnt den Kopf zu verlieren, verfolgt mich nach den Proben, nach den Konzerten, versucht mich zu stellen, macht mir Vorwürfe, belästigt mich mit seinen Beteuerungen, will sich von seiner Frau scheiden lassen, eine absurde Idee. Mir war klar, daß es ihm von Anfang an ernst war,
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