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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilian Faschinger
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lagen. Diese ungewöhnliche Reaktion verunsicherte mich, und ich beschloss, mich zurückzuziehen, nahm ein Buch zur Hand, das ich aus Wien mitgebracht hatte, setzte mich ein kleines Stück von ihm entfernt in den Schaukelstuhl und schlug den Band auf. Das Werk befasste sich mit Viktimologie, einer Teildisziplin der Kriminologie. Nach einer Weile hob Stefan den Kopf und blickte auf den Umschlag.
    » Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege «, las er. » Theorie, Methoden und Empirie der Viktimologie .« Er bewegte den Kopf langsam hin und her. »Opfer und Täter«, sagte er nachdenklich, in leicht singendem Tonfall, »Opfer und Täter. Täter und Opfer.«
    Ich blickte auf.
    »Das Thema interessiert mich«, sagte ich, erleichtert darüber, dass er sich wieder äußerte. »Schon seit langem. Was macht jemanden zum Opfer? Weshalb werden manche Menschen eher Opfer von Straftaten als andere? Gibt es eine Wechselbeziehung zwischen Täter und Opfer?«
    »Täter und Opfer. Opfer und Täter«, wiederholte Stefan und wiegte weiter den Kopf. »Ich und Regina. Regina und ich.« Er legte die Stirn auf seine Hände. Ich verstand ihn nur schwer, als er weitersprach. »Es war nicht das große Glück – das Eheglück –, es war das Unglück. Das große Eheunglück. Das Ehefiasko. Das Ehedebakel. Ich habe dich belogen, Sissi. Wir haben alle belogen, Regina und ich. Jahrelang. Wir waren perfekte Lügner. Perfekt. Keine Harmonie. Keine Harmonie … Nein … Das Gegenteil. Das Gegenteil!« Plötzlich stand er vom Tisch auf. »Ich zeig dir etwas«, sagte er. »Ich zeig dir etwas.«
    Er verließ das Zimmer, aufrecht und ohne zu schwanken. Ich hörte, wie er die Treppe hinaufstieg, mit regelmäßigem, festem Schritt, hörte ihn im Dachgeschoß umhergehen. Nach einer Weile trat er wieder in die Stube. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand.
    »Ich zeige dir jetzt etwas«, sagte er wieder und legte das Blatt auf das Buch, das aufgeschlagen auf meinen Knien lag.
    Auf dem dünnen, zartrosa Bogen, dem Briefpapier, das Regina verwendet hatte, standen Namen untereinander, eine lange Reihe, mit blauem Füllhalter geschrieben. Männliche Vornamen, auch einige Familiennamen. In Reginas Handschrift. Ihre Schriftzüge waren unverkennbar. Übertrieben groß, am Rande des Megalomanen, weit nach rechts geneigt, mit langen Ober- und Unterlängen, vielen Haken, spitz, harpunenartig.
    Die Liste, fuhr es mir durch den Kopf. Das ist die Liste. Der eine oder andere Name war mir bekannt.
    »Was sind das für Namen?«, fragte ich.
    »Es sind Reginas Liebhaber«, sagte Stefan und lachte auf, freudlos. Er verwendete das Präsens, so als sei seine Frau niemals verschwunden, als könne sie im nächsten Augenblick den Raum betreten, heiter und selbstsicher, sich mit dieser für sie typischen, anmutigen Geste das schwarze Haar aus der schönen, gerundeten hohen Stirn streichen und am Tisch Platz nehmen. »Ein lückenloses Verzeichnis. Alle unsere ehemaligen männlichen Bekannten sind darunter, jeder einzelne. Meine Studienfreunde, meine Kollegen. Einer meiner Brüder. Mein Cousin. Ein Nachbar. Unser Trauzeuge.« Wieder lachte er, länger, lauter. »Und natürlich Musiker, jede Menge. Ich habe einige Leute auszuhorchen versucht, diskret. Regina hat ständig gelogen, allerdings nicht in diesem Punkt.« Er sah mich an, unbewegt. »Was sie tat, das tat sie gründlich, nicht wahr, Sissi? In diesem Punkt hatte sie ihren Ehrgeiz. Sie verabscheute halbe Sachen. Sie ging sorgfältig und methodisch vor. Ihre Untreue hatte System. Es war harte Arbeit. Regina hat sich nichts geschenkt.«
    Ich schwieg. Diese Aufzählung war die größte aller Ungeheuerlichkeiten, die meine einstige Freundin sich erlaubt hatte. Aber was Stefan mir eben anvertraute, kam nicht ganz überraschend, Reginas Tagebücher hatten mich darauf vorbereitet.
    Er stand vor mir, seine Arme hingen an den Seiten herab, sein Mund, sein Blick zeigten keine Regung.
    »Sie hat mir die Aufstellung ein paar Monate vor ihrem – ihrem Ab… – ihrem Verschwinden präsentiert. Nach einem schrecklichen Streit. Mit einem selbstgefälligen Lächeln. Natürlich ging es ihr darum, mich zu erniedrigen, aber darüber hinaus war ihr der Stolz anzumerken – auf die Anziehungskraft, die sie auf Männer ausübte, auf die Mühelosigkeit, mit der sie sie alle, alle zu verführen vermocht hatte.«
    Stefan stieß einen sonderbaren Laut aus, eine Art leises Brummen, und sank neben mir auf die Knie. Er legte den Kopf in meinen

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