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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilian Faschinger
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arbeitsame, gottesfürchtige Menschen. Wer würde den Mut zu einer so extremen Tat aufbringen? Ich kann mir wirklich niemanden vorstellen, außer vielleicht …«
    Er hielt inne. Dem Wirt, einem kleinen, flinken, schwitzenden Mann mittleren Alters, den seine Frau um Haupteslänge überragte und der eben an unseren Tisch getreten war, um den Braten, Hirschmedaillons mit Sellerienudeln und gedünstetem Kürbis, zu servieren, war offenbar nicht entgangen, was Stefan zuletzt gesagt hatte. Er beugte sich zu uns herunter, seine Stirnglatze gleißte mit dem Weihnachtsschmuck um die Wette.
    »Außer vielleicht? Außer vielleicht?«, wiederholte er leise und beantwortete die Frage gleich selbst. »Außer dem jungen Temmel, dem Verrückten, wollen Sie sagen, nicht wahr, Herr Doktor? Wer käme sonst in Frage? Vor drei Jahren ist die alte Frau Baumgartner verschwunden und nie wiederaufgetaucht, wie Sie wissen.« Ich nickte bejahend, obwohl ich es nicht wusste. Meine Wissenslücken im Hinblick auf das soziale Leben in meinem Geburtsort wurden mir langsam peinlich. »Zuletzt wurde sie beim Weiher gesehen. Es ist allgemein bekannt, dass Florian Temmel andauernd in der Nähe des Fuchsweihers umhergeschlichen ist.«
    »Ja, jeder weiß das«, sagte ich, da meine Großmutter mich von dieser Tatsache unterrichtet hatte, und nickte wieder, diesmal vehement. Der Wirt blickte mich leicht irritiert an.
    »Und dass er der Baumgartnerin nachgelaufen ist wie ein Hund«, setzte er fort. »Sie hat sich sogar beim Binder darüber beschwert. Aber dieser Jammerlappen von Gendarm hat nichts unternommen.«
    Stefan nickte langsam zu den Worten des Gastwirts.
    »Ich habe mich davor gescheut, es auszusprechen«, sagte er dann, »aber ich fürchte, Sie haben nicht unrecht. Der junge Mann ist stark verhaltensauffällig, das ist unbestreitbar. Er hat schon einige Frauen sexuell belästigt, erst vor kurzem wurde er gegenüber Imelda Fux gewalttätig. Ich bin kein Psychiater, aber ich muss sagen, ich halte ihn für ziemlich unberechenbar, um nicht zu sagen gefährlich.«
    Ich starrte Stefan an. Offenbar war auch er zu all jenen zu zählen, die Florian die schändlichsten Handlungen zutrauten. Verfolgte er damit bestimmte Absichten? Der Wirt beugte sich noch tiefer zu uns, sodass ich die Schweißperlen auf seiner Stirn, die großen Poren auf Kinn und Wangen und die borstigen schwarzen Haare, die aus seinen Nasenlöchern ragten, überdeutlich wahrnahm, auch die roten Äderchen in den Augen und auf den Wangen.
    Wahrscheinlich eine Bindegewebsschwäche. Oder Trunksucht. Aus nächster Nähe betrachtet, waren die wenigsten Männer schön.
    »So ist es. So ist es«, flüsterte er. »Und wissen Sie was? Mein Schwager, der Gemeindesekretär, hat aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass der junge Temmel heute schon im Beisein seines Bruders von zwei Kriminalbeamten aus Graz verhört worden ist. Und zwar verdächtig lange.« Er richtete sich wieder auf und reckte triumphierend das Kinn. »Das sagt doch alles. Mir kann keiner was vormachen. Ich habe es kommen sehen. – Was sagen Sie übrigens zu unserem Festtagsschmuck? Wir sind sehr stolz darauf. Heuer haben wir uns selbst übertroffen.« Er verneigte sich kurz. »Guten Appetit zu wünschen, die Herrschaften!«
    Hoffentlich waren die Hirschmedaillons inzwischen nicht kalt geworden.
    Am nächsten Morgen rief ich den Amtsarzt Doktor Absolon, den ich flüchtig kannte, in seiner Privatwohnung in Leibnitz an. Stefan schlief noch, es war eine lange und leidenschaftliche Nacht geworden.
    Der Arzt musste mittlerweile kurz vor seiner Pensionierung stehen. Er war mir schon vor einem Vierteljahrhundert alt erschienen. Ich hatte ihn als sanften, etwas umständlichen und gehemmten Mann in Erinnerung. Aufgrund meiner Tätigkeit an der medizinischen Fakultät Wien hatte er eine hohe Meinung von mir, und so hoffte ich, ihm die eine oder andere Information entlocken zu können.
    »Also – selbstredend bin ich zu strengster Geheimhaltung verpflichtet, was diese Sache betrifft, liebes, verehrtes Fräulein Doktor Fux«, sagte er, nachdem ich mein Anliegen geäußert hatte, »aber ich denke, also, ich denke, in Ihrem Fall darf ich, hm, eine kleine Ausnahme machen. Schließlich sind wir Kollegen, wenn ich das, also, in aller Unbescheidenheit so ausdrücken darf. Viel kann ich Ihnen nicht verraten, ich bitte Sie um Verständnis. Ich habe die Leiche nur kurz besehen, gleich nachdem man sie aufgefunden hatte. An der tiefsten Stelle des

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