Die Unzertrennlichen
die nicht selten mit dem Hang zur Schwermut einhergeht. Du weißt ja, dass der Allmächtige auch die Familie deines Großvaters nicht vor dieser Heimsuchung verschont hat.«
»Ja, das weiß ich«, sagte ich und seufzte zur Sicherheit. Ich wusste es nicht. Doch solche kleinen Lügen kürzten einiges ab.
»Ich könnte dir Sachen erzählen, Sissi – na ja, ein andermal vielleicht.« Meine Großmutter schwieg, vermutlich Erinnerungen nachhängend, bedauerlicherweise nicht lange genug, als dass ich diese Pause zu dem Versuch hätte nützen können, ihren Bericht etwas zu raffen. »Beim letzten Kirchtag hat der Jakob jedenfalls befunden, dass die Susi zu oft mit dem jungen Rupp tanzt, dem Sohn des Tischlermeisters, worauf er sie und den Rupp auf dem Tanzboden zur Rede gestellt hat. In aller Öffentlichkeit! Eine solche Blamage, immerhin ist er entfernt mit uns verwandt, die Schande fällt auf uns zurück. Er hat die Susi gefragt, was sie davon halten würde, wenn er sich umbringt. Die Susi hat gelacht und gefragt, wie er das anstellen will. Da hat er angekündigt, dass er ins Wasser gehen wird, in den Fuchsweiher, und ist weinend weggelaufen. Daraufhin haben plötzlich alle geschwiegen, mit der lustigen Kirchtagsstimmung war es vorbei, die hat der Jakob uns gründlich verdorben. Denn jeder weiß, dass er nicht schwimmen kann und dass der Fuchsweiher an einer Stelle fast zwanzig Meter tief ist.«
»Genau«, sagte ich. Auch dies hatte ich nicht gewusst. Dann schaltete ich mich beherzt ein zweites Mal ein. Es musste sein.
»Und? Hat er sich ertränkt oder nicht?«
Wieder geriet meine Großmutter einen Moment aus dem Konzept.
»Wie? Was? Unterbrich mich nicht, Sissi, sonst verliere ich den Faden. Nein, er hat sich nicht ertränkt, wie sich aber erst nach Tagen herausgestellt hat. Der Jakob war nirgends zu finden, seine Eltern haben sich natürlich entsetzliche Sorgen gemacht und eine Abgängigkeitsanzeige erstattet. Auf diese hin hat die Polizei jeden Kubikzentimeter Wasser des Fuchsweihers durchsucht, auch den stinkenden Schlamm auf dem Grund, mit einem Spezialbagger und mit Schaufeln und Sondierstäben. Frage mich nicht, was ein Sondierstab ist, Sissi – ich glaube, diese Gerätschaften werden auch bei Lawinenabgängen eingesetzt. Das hat jedenfalls dein Onkel Hannes behauptet, aber auf den Verstand dieses Hohlkopfs ist nicht unbedingt Verlass. Schließlich haben dann die Leichensuchhunde angeschlagen, die Köter, die sie eigens aus Graz geholt haben, und man hat eine schauerlich verweste Leiche aus dem Wasser gezogen. Der Binder, unser Gendarm, der dabei war, liegt mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus. Wahrscheinlich werden sie ihn auf die Grazer Nervenklinik verlegen. Er hält nicht viel aus, wie du weißt, er hätte Schneider werden sollen.«
»Das stimmt, der hält nicht viel aus«, wiederholte ich erfreut. Diesmal war ich nicht völlig ahnungslos, denn der Forstgehilfe hatte mich bereits auf die mangelnde seelische Robustheit des Gendarmen hingewiesen, dessen linkes Augenlid zuckte, seit er, wie der Gehilfe behauptete, den Geist meiner Mutter erblickt hatte.
»Und der junge Zirngast?«
»Der ist mit einem Zechkumpan nach Slowenien gefahren und nach einer Sauftour von fünf Tagen aus Maribor zurückgekehrt, in einem fürchterlichen Zustand, wie man sich denken kann. Die Weber Hilde hat mir erzählt, dass die Susi ihm den Verlobungsring vor die Füße geworfen hat, vor allen Leuten, im Gasthaus Zur blauen Traube, wo er gleich weitergetrunken hat. – Aber stell mir nicht dauernd unwesentliche Fragen, es geht hier nicht um den jungen Zirngast, es geht um die Wasserleiche. Wie gesagt, der Binder Karl, der Gendarm, ist zu nichts zu gebrauchen, er liegt bei den Barmherzigen Schwestern und murmelt unverständliches Zeug. Die Polizisten, die am Teichufer herumstehen, ihre Kappen abnehmen und sich den Kopf kratzen, haben keine Ahnung, das sieht man gleich. Und der Amtsarzt, den man sofort gerufen hat – du weißt ja, der Doktor Absolon aus Leibnitz, der senile Trottel –, verrät keine Silbe.« Herr Doktor Absolon war fast zwanzig Jahre jünger als meine Großmutter. »Mit einem Wort, die Dorfbevölkerung tappt im Dunkeln, ein Skandal! Wir haben ein Anrecht auf Aufklärung, es ist schließlich unser Weiher und somit unsere Leiche! Du bist Gerichtsmedizinerin, Sissi, ich bitte dich, komm in deine Heimat und schau nach dem Rechten. Als eine der Unsrigen ist es deine Pflicht!«
Ich kannte meine Großmutter gut
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