Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
seinem Haus hinter verschlossenen Fenstern, und dann war er plötzlich verschwunden.«
»Bis Doktor Prokái ihn fand«, stellte Pickwick fest.
»Der arme Doktor Prokái«, sagte Eva leise. »Er kam vor einer Woche nach Aghiresu.« Eva beschrieb Doktor Prokái als ruhigen und besonnenen Mann, der sich alle Mühe gab, die Ursache der rätselhaften Krankheit aufzudecken. »Er machte sich sofort an die Arbeit, untersuchte unermüdlich das Blut der Kranken. Unsere Geschichten von den Vrolok belächelte er nur, bis er eine ihrer Attacken erlebte.«
»Wie oft kommt es zu diesen Übergriffen?«, fragte Tom.
»Am Anfang kamen sie selten bis mitten ins Dorf«, erklärte Eva, »doch seit einigen Tagen scheinen sie jegliche Angst zu verlieren. Ihre Zahl ist gewachsen. Sie fühlen sich jetzt stark.«
»Und Doktor Prokái?«, hakte Pickwick nach.
»Der Doktor war ein Arzt und Wissenschaftler wie Sie«, antwortete Eva und sah Pickwick dabei fest und trotzig in die Augen. »Er glaubte, dass man eine logische Antwort auf all dies finden würde. Er sammelte alle Fakten, deren er habhaft werden konnte, und zog seine Schlussfolgerungen. Schließlich begann er, uns über die Gräfin Hunyady zu befragen.«
»Sie hatten ihm berichtet, dass der Bürgermeister der Gräfin einen Besuch abgestattet hatte«, stellte der Doktor fest.
Eva nickte. »Und so beschloss er, ebenfalls die Gräfin aufzusuchen.« Sie wirkte nachdenklich. »Das war vor drei Tagen. Seit seinem Aufbruch aus dem Dorf haben wir nichts mehr von ihm gehört.«
Alle Anwesenden schwiegen.
Herr Vályi schnitt eine dicke Scheibe Schwarzbrot ab und schenkte sich neuen Wein nach. Eine nachdenkliche Stille füllte den Raum.
Schließlich schlug Frau Vályi vor, zu Bett zu gehen. Wir würden den Schlaf brauchen, übersetzte uns Tibor, wenn wir am kommenden Tag das Geheimnis der Krankheit ergründen wollten. Außerdem brächte es keinem etwas, schlimmen Gedanken und düsteren Vermutungen nachzuhängen.
Dankbar erklärten wir uns mit diesem Vorschlag einverstanden. Die Aussicht, für einige Stunden allein sein zu können, wirkte beruhigend. Herr Vályi und Tamás würden abwechselnd wachen, sodass wir in Sicherheit wären. Dann führte uns die Wirtsfrau zu unseren Kammern im oberen Stockwerk des Hauses. Zu müde, um mir weitere Gedanken zu machen, ließ ich mich auf mein Bett fallen, genoss den Geruch der gestärkten weißen Laken. Es tat so gut, endlich die Augen schließen zu können.
Am nächsten Morgen erwachte ich nach einer traumreichen Nacht und hörte als Erstes aufgeregte Stimmen von draußen.
Ich stand auf und kleidete mich schnell an. Die junge Frau, die mich aus dem Tischspiegel heraus ansah, wirkte müde und blass. Das eiskalte Wasser aus der Porzellanschale, die auf der Kommode stand, tat fast weh auf der Haut. Meine Lebensgeister aber kehrten fast augenblicklich zurück.
Als ich die Fensterläden öffnete, drang mattes Licht in die Kammer. Von meinem Standpunkt aus überblickte ich den Dorfplatz und die Hauptstraße von Aghiresu. Der wolkenverhangene Himmel schien den dichten Nebel, der sich nur an manchen Stellen lichtete, auf die Erde niederzudrücken. Leichter Nieselregen ließ dünne Rinnsale auf der Fensterscheibe entstehen. Fast war es, als hätten der Regen und der Nebel alle Farben aus der Welt gewaschen.
Unten auf dem Dorfplatz hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Bauern und ihre Frauen, Herr Vályi samt Sohn, mein Bruder und Doktor Prókai. Sie alle standen inmitten der Überreste unserer Pferde. Soweit ich die Lage überblicken konnte, waren alle vier Pferde getötet worden. Die Kutsche selbst hatte ebenso Schaden erlitten. Beide Türen waren abgerissen. Die Vorhänge im Inneren hingen in Fetzen an den Fenstern herab.
»Eliza?« Das Klopfen an der Tür ließ mich aufschrecken.
Es war Tibor.
»Sie sollten nach unten kommen«, rief er mir durch die geschlossene Tür zu.
»Es ist ein Kind verschwunden.«
»Ein Kind?«
»Es herrscht ein heilloses Durcheinander im Dorf«,antwortete er. »Alle reden aufeinander ein, als stünde das Ende der Welt bevor. Ich weiß nicht genau, was passiert ist.«
Ich schloss das Fenster, verließ die Kammer und folgte Tibor nach draußen, wo der Doktor über einen der Pferdekadaver gebeugt stand und die Größe der Bisswunden analysierte.
»Unter gar keinen Umständen stammen diese Bisse von Wölfen«, sagte Pickwick und stocherte mit einem kurzen Stock in einer nassen Wunde herum. »Sie sind zu klein.
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