Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Zudem stimmt die Form nicht mit der eines Wolfsgebisses überein.«
Der Schaden wirkte von hier aus noch bedrohlicher. Die Pferde waren förmlich in Stücke gerissen worden. Überall im knöcheltiefen Schlamm lagen Fetzen blutigen Fleisches herum. Neben dem Eingang zum Wirtshaus lag ein Pferdekopf mit in Panik aufgerissenen Augen. Das abgerissene Ende der Halswirbelsäule des Tieres hing lose aus dem sehnigen Muskelgewebe heraus. Geronnenes Blut füllte die Pfützen um uns herum, und ich stellte fest, wie stark es nach den toten Tieren roch.
Ich entdeckte Tom an der Hauswand des Wirtshauses stehend.
»Kleine Eliza«, begrüßte er mich, als ich auf ihn zutrat, »wie war deine Nacht?«
Ich küsste ihn auf die Wange. »Traumhaft«, gab ich zur Antwort.
Er lächelte und deutete auf die langen und beängstigend tiefen Kratzspuren an den Fensterläden. »Wir hatten Glück«, stellte er fest, und ich betrachtete eines der rostigen Scharniere, das fast aus der Verankerung gerissen worden war.
»Was geht hier nur vor?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Tom, »aber ich glaube nicht an Geister. Was immer das Dorf in der letzten Nacht heimgesucht hat, es war mit Sicherheit kein Werwolf oder eine dieser anderen Gestalten aus der Mythologie dieser Region. Wir werden es in jedem Fall wissenschaftlich erklären können. Die Frage ist lediglich, wie viel Zeit wir dazu benötigen werden.«
Ich konnte nur hoffen, dass er mit dieser Meinung Recht behielt, und schaute mich weiter auf dem Dorfplatz um.
Die eisige Kälte an diesem Morgen schüttelte meinen ganzen Körper. In diesem Augenblick war die Erinnerung an Ägypten einem verschwommenen Traum gleich. Der Atem bildete kleine Wölkchen, und es schien keinerlei Entrinnen vor der allgegenwärtigen Feuchtigkeit zu geben. Die nahen Wälder ließen nur konturenhaft ihre Baumwipfel aus dem Nebel ragen, der sich wie ein Teppich über das ganze Land gebreitet hatte. Immerhin ließ einen diese Atmosphäre verstehen, wie sich der Aberglaube der Osteuropäer hatte entwickeln können. Selbst die Geräusche wurden vom Nebel verschluckt.
»Miss Holland«, rief mir der Doktor zu. »Ich benötige Ihre Hilfe.«
Während ich durch den Schlamm zu ihm watete, kam der alte Ärger in mir auf. Der Tonfall des Doktors hatte diesen befehlenden Klang, der mir vollends unangemessen schien, wenn man das Verhältnis, in dem wir zueinander standen, berücksichtigte. Schließlich war ich weder eine unwissende Schülerin noch seine Assistentin.
»Frau Rogács dort hat eine kranke Tochter«, sagte er ohne Umschweife, als ich bei ihm ankam. »Ich sollte sie dringend untersuchen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wovon ich ausgehe, bitte ich Sie, mir zur Hand zu gehen.«
Allein der Anblick der armen alten Frau, die ratlos im Schlamm neben dem Dorfbrunnen stand und Hilfe suchend und abwartend in unsere Richtung sah, hielt mich davon ab, den Doktor an Ort und Stelle mitsamt seinem impertinenten Auftreten stehen zu lassen.
Während wir der Frau zu ihrem Haus, das am Rand des Dorfes in der Nähe des kleinen Flusses lag, folgten, teilte mir der Doktor mit, dass der einjährige Sohn des Dorfschmieds in der letzten Nacht verschwunden sei. Abschätzig sagte er: »Eine Stregoica hat ihn aus seinem Bettchen geraubt.« Die Tochter der armen Frau Rogács hingegen sei seit drei Tagen von der Seuche, wie die Einheimischen die Krankheit nannten, befallen. Sie sei derzeit die einzige noch lebende Infizierte, teilte mir Pickwick mit, der mit großen Schritten durch den Schlamm watete, seine Arzttasche fest im Griff.
Nach fünfminütigem Fußweg erreichten wir das Haus der Familie Rogács. Es war nur eine armselige Behausung aus groben Steinklötzen mit einem verwitterten Strohdach. Die schweren Fensterläden waren noch geschlossen, ebenso die Haustür. Nach mehrmaligem Klopfen der guten Frau öffnete ihr Mann, der so dünn war, dass es den Anschein hatte, als habe er seit Wochen keine Nahrung mehr zu sich genommen, die Tür und ließ uns ein. Das Innere das Hauses kündete von großer Armut, soweit man dies in der Dunkelheit erkennen konnte. Nur wenige Kerzen erhellten die Stube in spärlichem Licht. Ein kleiner Tisch stand in der Mitte des Raumes, daneben war eine Feuerstelle im Boden eingelassen, der dazugehörige Kamin, eine runde Öffnung im Dach, war ebenso verriegelt wie jedes Fenster des Hauses.
Ein süßlicher Geruch nach Krankheit stach uns in die Nase.
»Welch ein Schmutz«, grummelte der Doktor
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