Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
erfahrenen Wiedergänger derart zu ängstigen vermochte, trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. »Und nun, Eliza, sagen Sie mir, warum al-Vathek hier ist.«
Die Antwort war rein rhetorischer Natur. »Er will sie töten.«
»Er muss es tun«, sagte sie. »Die Alternative wäre undenkbar.«
»Vielleicht finden wir das Grab gar nicht.«
Sie sah mich missbilligend an. »Mit Sicherheit finden wir das Grab.«
»Wie wird al-Vathek sie töten?«
Hier deutete sie ein Lächeln an. »Er wird ihr den Kopf abschlagen und ihr das Herz herausschneiden.«
Ich fragte mich, ob dies tatsächlich ihr Ernst war oder eine spöttische Anspielung auf die Geschichten Abraham Stokers und Sheridan LeFanus.
Das Mosaik begann immerhin, wenn auch nur langsam, Form anzunehmen. Infolge seiner Befürchtungen also hatte al-Vathek den Kontakt zu Maspero aufgenommen. Seine Präsenz im Tal der Könige war notwendig. Das war nun klar. Doch wie passten mein Bruder und ich in dieses Spiel?
»Dass Lord Carnarvon Ihren Bruder und Sie nach Karnak schickte, war nichts als ein Zufall. Dass Howard Carter kurz vor Ihrer beider Eintreffen in Luxor das Grab KV55 fand und zudem die geheime Kammer mit al-Vatheks Sarkophag entdeckte – ebenfalls ein Zufall. Dass Sie der Name unseres Freundes auf die Idee brachte, nach den Reiseberichten zu forschen und ibn-Fadlans Fragmente Sie nach Budapest und Aghiresu verschlugen – was soll ich sagen? Manche Dinge passieren einfach. Mit Sicherheit hätten Sie al-Vathek später hier in Karnak kennen gelernt. Wenngleich Sie ihm dann als einem gewissen Herrn Pharos begegnet wären.«
»Und Carathis?«, bohrte ich weiter.
»Al-Vathek weilte am
Isten Szek
«, erklärte sie mir, »weil er ein Auge auf sie hatte werfen wollen. Ich deutete bereits an, dass Carathis Schwierigkeiten hat, die Kontrolle über ihr Verhalten zu bewahren. Jedoch war es al-Vathek, der von Ihren Nachforschungen im Museum bei Professor Mólnar erfuhr. Dass dieser Doktor – wie ist noch gleich sein Name?«
»Pilatus Pickwick«, sagte ich.
»Dass Doktor Pickwick sie beide ansprach und auf die Missstände in Aghiresu hinwies«, fuhr sie fort, »war ein erneuter Zufall. Erst als Sie dort auftauchten, beschloss al-Vathek, wie er mir mitteilte, Sie alle für seine Zwecke einzuspannen.«
»Wenn al-Vathek nicht gewesen wäre…«, flüsterte ich.
»Dann würden Sie und Ihr lieber Bruder jetzt als Vrolok durch die Wälder des
Isten Szek
streifen«, beendete Miss White den Satz. »Al-Vathek rettete Ihnen allen das Leben.«
»Warum?«, wollte ich wissen.
Die Augenbrauen verzogen sich skeptisch. »Warum er es getan hat?«, wiederholte sie meine Frage. »Nun, meine Kleine, er war auf der Suche nach Gefährten. Denn er hat Pläne, die ihn nach London führen werden. Mein Begleiter Charles Dombey, der ein Waisenhaus in Rotherhithe leitet und, das können Sie mir glauben, mit Kindern umzugehen weiß, ist dem Geheimnis unserer Art auf der Spur. Seine Forschungen sind, nun ja, sagen wir: sehr modern. Al-Vathek wird, sobald dies alles hier überstanden ist, nach London gehen, und zu diesem Zweck benötigt er Gefährten.« Nachdenklich ließ sie ihren Blick über den Wüstensand gleiten. »Erwählt man sich einen Gefährten, so bedeutet dies aber vor allem, Verantwortung zu übernehmen. Es ist nicht einfach, sich mit der neuen Existenz abzufinden. Aus diesem Grunde hat man mich an Ihre Seite gestellt, Eliza. Al-Vathek wird Ihrem Bruder zu Diensten sein. Und auch Doktor Pickwick im fernen Budapest befindet sich in guter Gesellschaft.«
»Wie können Sie das nur alles verantworten?«
Sie lächelte traurig. »Auch ich, Eliza, bin fähig zu lieben. Und wie alle Menschen, so habe auch ich ein Bürde zu tragen, die ich mir selbst auferlegt habe.« Entsetzlich maskenhaft wirkte ihr Gesicht, als sie sagte: »Ich spreche von einer Schuld, mein Kind, die niemand von mir nehmen wird.« Sie seufzte. »Außerdem ist dies der einzige Weg, dauerhaft Nachfahren in die Welt zu setzen. Zwar ist es uns möglich, Kinder zu zeugen, doch altern diese, wie gewöhnliche Menschen es tun. Wenn die Zeit gekommen ist, würden wir sie verlieren.« Müde rieb sie sich die Augen und fügte traurig hinzu: »Außerdem wissen Sie, was mit unseren Kindern geschieht.«
»Ja.« Al-Vathek hatte davon berichtet.
»Sich einen Gefährten zu erwählen, ist keine leichte Entscheidung. Doch was bleibt uns anderes übrig? Niemand lebt so lange, wie wir es tun, ohne sich der Nähe eines vertrauten
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