Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
erregender zu wirken, von Nationalisten, die es auf ausländische Bürger abgesehen hatten, die man dann ausgeraubt und mit durchschnittener Kehle in der Gosse liegend wiederfand. Wie jede andere europäische Großstadt war auch Budapest ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Klassen und Missstände seiner Zeit.
Es war ein sonniger Nachmittag, als ich Tibor ins kleine Stadtwäldchen begleitete, um einem folkloristischen Konzert zu lauschen, von dem er zuvor in höchsten Tönen geschwärmt hatte.
»Als ich klein war«, erzählte er mir, »da kam ich oft hierher. Mit meiner Großmutter.« In den letzten Wochen war es nicht nur Tibors sanfte Stimme gewesen, die mir vertraut geworden war. »Sie kam mit mir hierher, breitete ein altes Tuch auf dem Rasen aus und las mir Geschichten vor.« Ich folgte dem verträumten Blick seiner dunklen Augen hinüber zur grünen Rasenfläche, die sich vor dem kleinen, von einem Wassergraben umgebenen Schlösschen ausbreitete. Elegante Herrschaften flanierten in den Parkanlagen umher, vornehme Frauen mit Sonnenschirmen, langen Kleidern und exaltierten Gesichtern, hinter deren geschminkten Zügen man kaum menschliche Regungen erkennen konnte, begleitet von Männern in gut geschneiderten Anzügen, die mit der Dame ihres Herzens über der Mode entsprechende Belanglosigkeiten parlierten.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?« Tibors Stimme riss mich aus meinen Beobachtungen.
»Wenn Sie es möchten.«
Er schien die Wahl seiner Worte sorgsam zu überlegen. »Sind Sie glücklich mit ihrem Leben?«
Ich schlug überraschend schnell den Blick nieder. »Warum fragen Sie?«
»Von meinem Standpunkt aus betrachtet, haben Sie alles, was sich ein Mensch nur wünschen kann«, sagte Tibor. »Sie entstammen einer gut situierten englischen Familie und tun das, was Sie interessiert, haben kaum Ängste, was Ihre Zukunft betrifft. Und doch wirken Sie in vielen Augenblicken unglücklich.«
»Ach ja?«
Er nickte nur.
Ich schwieg, während meine Gedanken nach England zurückeilten. Man glaubt, dass Liebe mit einem Paukenschlag erlischt, dramatisch und herzzerreißend. Doch in Wahrheit stirbt die Liebe unmerklich langsam, jeden Tag ein wenig mehr, bis man eines Tages auf einer Parkbank im Sonnenschein sitzt und feststellen muss, dass von den einstigen Gefühlen nicht mehr übrig geblieben ist als Bedauern und die Frage, wie es so weit hatte kommen können, weshalb man sich in einem anderen Menschen derart täuschen konnte.
»War Ihnen je danach, zu schreien?« Tibor fuhr sich mit der Hand durch das lockige Haar, wirkte erneut so verlegen wie am Tage unseres Eintreffens in Budapest. »Ich sollte Ihnen vielleicht eine weitere Geschichte erzählen.« Er wartete einige Augenblicke ab, bevor er begann: »Als meine Großmutter starb, vergoss ich keine Träne. Ich weinte nicht am Tag ihres Todes, nicht danach und auch nicht am Tage ihrer Beisetzung. Sie hätte das nicht gewollt. Eine Woche nach dem Begräbnis kam ich nach der Schule hierher zum Szenzátios Csodar. Ich stand dort drüben, mitten auf der Wiese. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Es war, als hätte sich ein Knoten in mir gelöst. Ich musste diese Leere einfach aus mir herausschreien.«
Ich sah ihn an, und in diesem Augenblick schien es mir, als hätte ich diesen jungen Ungarn mein Leben lang gekannt.
»Ich fühle mich einsam«, gab ich leise zu und war selbst überrascht, wie fremdartig und banal dies klang.
»Es ist nicht gut, sich zu lange zu beherrschen.« Tibor legte zaghaft seinen Arm um meine Schulter. »Sie sollten schreien, Eliza.«
Ich fragte mich, ob ein einziger Schrei genügen würde, um die Leere in mir zu vertreiben, und spürte das warme Sonnenlicht auf meiner Haut. Die Luft war erfüllt vom Surren der Insekten und dem fernen Stimmengewirr umherflanierender Fremder, die Welt wirkte unecht, und ich hatte das Gefühl, gar nicht dort zu sein, in diesem Park an diesem Sommertag, so weit entfernt von meiner englischen Heimat und den Menschen, von denen ich geglaubt hatte, sie seien mein ganzes Leben.
Dem Drang nicht länger widerstehen könnend, erhob ich mich von der Bank, die Fäuste geballt und schrie mein Innerstes mit geschlossenen Augen trotzig in das gleißende Sonnenlicht hinaus. Ich tat es, bis mein Hals zu schmerzen begann. Ich tat es mit jeder Faser meines Körpers. Dann war es vorbei. So plötzlich, wie es begonnen hatte, und in diesem Moment schien es mir unvorstellbar zu sein, den Schrei so lange Zeit
Weitere Kostenlose Bücher