Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
anderen noch eine Weile schlafen, sie konnte es einfach nicht mehr. So müde sie auch war, sie musste sich einfach bewegen. Sie betrachtete die Reliefs an den Wänden, die Bilder längst vergangener Schlachten zeigten, und dann dachte sie an das, was Eliza ihr gesagt hatte. Dass dies einmal ein Paradies gewesen war, das irgendwann einmal zur Hölle geworden war.
Sie musste an Adam Stewart denken, wie so oft in letzter Zeit. An das kurze Gedicht, das er ihr am Piccadilly Circus zum Geschenk gemacht hatte. Im letzten Sommer war das gewesen, als es warm und schön gewesen war in der Stadt der Schornsteine. Im Schatten des Engels der Barmherzigkeit hatten sie einander geküsst, und dann waren sie hinab zum Embankment geschlendert, wie Verliebte es tun, wenn der Abend naht und der Wind von der Themse nach bunten Wildblumen riecht.
Sie seufzte langgezogen.
Nein, auch diese Gedanken ließen sich nicht einfach so ignorieren.
Emily Laing berührte ihr Mondsteinauge. Adam Stewart hatte es gemocht, wie er alles an ihr gemocht hatte. Fast war ihr, als könne sie diese Erinnerung greifen wie einen zarten Schmetterling, der sich achtlos auf einem Stück Draht niedergelassen hatte und seine Schwingen faltete.
»Wie es aussieht«, hörte sie eine Stimme hinter sich sagen, »bin ich nicht der Einzige, der schlecht geschlafen hat.«
Emily zuckte zusammen. »Sie haben mich erschreckt.«
»Das tut mir Leid.« Tristan Marlowe stand hinter ihr, und sie wunderte sich, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. Seine Augen waren unergründlich, und doch spiegelte sich das Feuer einer der Lampen darin, und einen Moment lang fragte sich Emily, ob sie sich nicht die ganze Zeit über getäuscht hatte und es Traurigkeit war, die tief in den hellen Augen schwamm. »Sie erschrecken zu wollen lag mir fern.« Er strich eine Strähne des pechschwarzen Haars zur Seite, und die blauen Strähnen wirkten wie Farbfäden darin. »Ich wollte die anderen nicht aufwecken.« Er sprach leise, und es war fast schon ein Lächeln in seiner Stimme zu hören.
Das Mädchen wusste nicht recht, was es sagen sollte.
»Wir gehen also nach Prag«, sagte er.
So, dachte Emily, lautete der Plan.
»Ja, das tun wir wohl.«
Nachdenklich ging er an ihr vorbei. Den Gehstock trug er, wie immer, bei sich. »Glauben Sie ihr?«
»Eliza?«
»Ja.«
Was sollte sie sagen? »Warum sollte ich ihr nicht trauen?«
Tristan Marlowe drehte sich zu ihr um. »Weil nichts ist, wie es scheint? Weil die Menschen nur selten ehrlich zueinander sind? Sie sind doch immer noch ein Waisenmädchen, Miss Emily Laing. Haben Sie denn nicht gelernt, wie wenig man anderen Menschen trauen darf?« Da war nicht einmal Bitternis in seiner Stimme. Es war eine Feststellung, nichts weiter.
»Und Sie?«
»Was meinen Sie?«
»Woher kommen Sie?«
Er deutete in eine Ecke des Raumes, wo er geschlafen hatte.
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich weiß.«
Er sah sie an. Zurückhaltend. Ernst.
»Kann ich Ihnen trauen?«
»Ja.« War da die Andeutung eines Lächelns? »Allerdings könnte ich Sie auch anlügen.«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil die Welt so ist. Lügnerisch und intrigant.«
Emily wandte sich von ihm ab und schickte sich an zu gehen.
Sie hatte kein Interesse an dieser Art von Gespräch.
»Warten Sie!«, rief Marlowe ihr nach.
Sie blieb stehen.
Drehte sich aber nicht um.
»Ich war ein Waisenkind wie Sie.« Emily hörte seine Schritte hinter ihrem Rücken näher kommen. »Davon abgesehen ist meine Lebensgeschichte eher unbedeutend.«
»Keine Geschichte«, sagte Emily, »ist unbedeutend.«
»Ich weiß, dass man das sagt.«
Emily sah ihn herausfordernd an. »Und?«
»Sie sind neugierig.«
»Möchten Sie mir Ihre Geschichte erzählen?«
»Ein andermal.«
Beide standen sie da.
Schwiegen einander an.
Bis Emily sich genötigt fühlte, etwas zu sagen: »Sie sind ein seltsamer Mensch, Tristan Marlowe.«
»Ich weiß.« So, wie er das sagte, klang es fast schon wie die Andeutung einer Entschuldigung. Er hielt den Blick gesenkt, und seine Finger spielten mit dem Knauf des Gehstocks. Leise lenkte er ab: »Aber lassen Sie uns doch über das Ziel unserer Reise sprechen. Über die Stadt der tausend Dächer.«
»Sie kennen Prag?«
»Nennen Sie mich Tristan, bitte.«
Was sollte das denn nun?
Argwöhnisch betrachtete Emily ihr Gegenüber. Die Freundlichkeit, die er an den Tag legte, machte sie misstrauisch. War er ihr bisher doch äußerst abweisend und arrogant gegenübergetreten.
»Wir
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