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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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können?«
    Emily trat neben sie und berührte die Hand mit den Tätowierungen und den vielen Ringen.
    »Die alte Welt«, flüsterte Eliza mit immer noch geschlossenen Augen, »ist so gierig, dass wir …« Sie holte tief Luft, und ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Nacht. »Wir sind nur die Figuren in einem Spiel, dessen Regeln wir nicht einmal verstehen.«
    Emily musste an Adam denken.
    »Du vermisst ihn, stimmt’s?«
    Sie hatte Eliza nur kurz von ihm erzählt.
    Von dem, was geschehen war.
    »Frag bitte nicht.«
    Eliza öffnete die Katzenaugen, die traurig waren und doch wunderschön. »Er ist nur ein Junge.«
    Emily schüttelte den Kopf. Sie berührte ihr Mondsteinauge. »Er ist nicht nur ein Junge«, sagte sie leise. »Er ist … war …« Ihr Finger malte zwei Noten in den Schnee. »Er war mein Himmel.« Ja, genau das war er ihr gewesen. Ihr Himmel. Ihrer ganz allein. Ihr Lied, ihr Tag, ihr Abend. Alles, was zählte. Und nun war er fort.
    »Dies hier«, sagte Eliza, »war einst unser Himmel. Lucifer und ich haben hier gelebt. Es war ein Paradies, bis wir es verloren haben. Bis die Mala’ak ha-Mawet uns in die kalte Welt hinausgetrieben haben und der Ort, an dem wir uns jetzt befinden, in die Erde verbannt wurde.« Wehmütig blickte sie umher. »So viele Erinnerungen, die wehtun und die ich doch niemals missen möchte.« Sie ergriff Emilys Hand, drückte sie fest, ganz fest. »Wir werden unsere Himmel wiederfinden.« Dann lächelte sie. »Wir müssen sie wiederfinden, denn sonst wird das Leben, das wir führen, kein Leben mehr sein.«
    Emily musste lachen, doch es war kein glückliches Lachen. »Wenn das doch nur so einfach wäre.«
    Eliza Holland, die sich an die Gestade des Roten Meeres erinnern konnte, war zuversichtlich. »Pilatus Pickwick hat mich am Ende gehasst, mit Herz und Verstand. Liebe, Emily, stirbt niemals. Er hätte mir nimmer verzeihen können, weil das, was ich getan habe, als ich Lilith war, unverzeihlich war. Es war böse. Falsch. Und dafür hat er mich gehasst. Liebe zeigt uns immer den richtigen Weg, Emily. Es gibt nur diesen einen Weg und niemals einen anderen, und Pickwick ist ihn gegangen bis zum Ende, wie auch wir ihn zu gehen versuchen.«
    »Was hat er getan?«
    »Er hat Lord Gabriel gebeten, mich zu töten, doch der hat ihn nur ausgelacht und sich an seinem Leid ergötzt. Er hat die Mala’ak ha-Mawet mit Wissen über die Hölle gelockt. Er hat sie um eine Waffe gebeten. Ja, er wollte mich töten. Der Gedanke, dass ich diejenige war, die seine Schwester auf dem Gewissen hatte, war unerträglich für ihn.« Sie schlug den Blick nieder. »Am Ende haben uns die Mala’ak ha-Mawet getrennt, und ich habe von Lord Gabriel erfahren, dass sie Pickwick in der Wüstenei ausgesetzt hatten, damit er sein Schicksal erführe.«
    »Er ist in Kew Gardens Hall gestorben«, sagte Emily.
    »Einer mehr, der sein Paradies verloren und niemals wiedergefunden hat.« Es klang bitter, wie sie das sagte.
    Morgen, das wusste Emily, würden wir alle aufbrechen.
    »Du wirst mit Wittgenstein und Marlowe nach Prag reisen, und wir anderen werden in der Hölle den Limbus suchen. Wenn alles gut geht, dann finden wir das Paradies, das jeder von uns auf seine Weise verloren hat, vielleicht wieder, bevor es dafür zu spät ist.«
    Emily dachte an die Aufgabe, die vor ihr lag, und daran, dass Aurora und Neil in der Hölle bleiben würden.
    Noch so viele Dinge hätte sie mit Eliza Holland bereden können. So viele Fragen hätten gestellt werden können. Am Ende jedoch schwiegen sie beide, standen nur still nebeneinander und suchten im kalten Wispern des Winterwindes nach den alten Melodien, die sie zusammen mit dem Paradies verloren hatten.

Kapitel 2
Geschichten aus alter, alter Zeit
    Die Müdigkeit der letzten Stunden und Tage, die dem Mädchen noch in allen Gliedern steckte, hielt sie doch nur für wenige Stunden in ihrem Bann. Neben den Flammen eines Ölfeuers hatte Emily gekauert, den dunklen Mantel eng um den Körper geschlungen und den langen Schal bis über den Mund gewickelt. Nein, es war keine erholsame Nacht gewesen, und die Aussicht, dass sie sich in nur wenigen Stunden erneut auf die Reise begeben musste, war wirklich alles andere als vielversprechend.
    So stand sie irgendwann einfach auf, streckte sich und schlurfte durch den in einer seltsamen Stille gefangenen Palast. Leise und behutsam trat sie auf, damit ihre Stiefelabsätze kein lautes Geräusch auf dem Steinboden hervorriefen. Sollten die

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