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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Dach die tief hängenden Wolken zu berühren schien, ließ von außen nichts von der eleganten Pracht erahnen, die uns drinnen erwartete. Bereits über dem Eingangsportal des Südvestibüls befand sich ein dezenter Tympanon, auf dem Traubenbüschel und Weinblätter Zweige umrankten. Die jüdische Fahne mit dem Davidstern und dem hohen Hut, den die Juden im 14. Jahrhundert tragen mussten, hing gleich neben dem Tor.
    Drinnen empfing uns eine angenehme Wärme. Bronzene Lüster tauchten die Synagoge in ein warmes, güldenes Licht. Die Deckengewölbe wurden von zwei achteckigen Pfeilern, die sich mitten in der großen Halle befanden, gestützt. Und über dem Schrein, der die heiligen Thorarollen enthielt, befand sich ein geschnitzter Tympanon, der ebenfalls Zweige umrankende Weinblätter zeigte. In den Ecken und Winkeln brannten Kerzen, und neben dem Schrein befand sich ein hoher hölzerner Stuhl, vor dem Dorian Steerforth sich ehrfürchtig verbeugte.
    »Bevor ich Rabbi Hillel rufe«, sagte Steerforth, »möchte ich Ihnen meine Geschichte erzählen.«
    Er bot mir einen Platz im rechten Schiff an.
    »Dies«, begann er und breitete die Arme aus, »ist mein Zuhause.«
    »Die Synagoge?«
    »Ahnen Sie nicht bereits, was ich Ihnen sagen will?«
    Ich schwieg.
    Steerforth ging zu dem hölzernen Stuhl und berührte ihn zaghaft. »Dies ist der Stuhl des berühmten Rabbi Löw. Sie werden die Sagen kennen, die sich um seine Person ranken.«
    »Die Geschichte des Golems von Prag.«
    Dorian Steerforth wirkte nachdenklich. »Ja, jedes Kind kennt die Geschichte. Aber nicht immer sind die Geschichten, die man sich erzählt, auch wirklich wahr. Dennoch besitzen sie meist einen wahren Kern, und diesen gilt es zu erkennen.« Er ließ sich langsam und bedächtig auf dem Stuhl, der Rabbi Löw gehört hatte, nieder. »Einst lebte ein weiser Rabbi in Prag, der das Wort des Herrn studierte und verstand, dass die Welt mit Worten erschaffen worden war. In der Sefer Jezira und dem Buch Sode Rasajja fand er zwischen den hebräischen Zeilen versteckt jenes Geheimnis, das die Menschen immer schon zu entdecken trachteten.«
    »Das heilige Wort.«
    »Emet«, flüsterte Steerforth leise.
    »Und Rabbi Löw erschuf einen Golem, indem er ihm einen Zettel mit diesem Wort in den Mund steckte.«
    »Das ist es, was man sich erzählt.« Steerforth wirkte ruhig. »Doch dürfen Sie, wie gesagt, nicht alles glauben, was sich die Menschen erzählen. Es ist wahr, dass Rabbi Löw aus dem Lehm des Moldau-Ufers einen Golem geformt hat, doch war dieser Golem ein dummes Geschöpf. Er war belebte Erde, nicht mehr. Und eines Tages, als der Golem sah, dass ihn die Menschen aufgrund seiner Hässlichkeit mieden, da wollte er werden wie sie. Er tötete Menschen und stahl ihre Gesichter, er schnitt ihre Leiber auf und füllte den Lehm mit menschlichen Organen. Er war ein Mörder und in dieser Hinsicht den Menschen doch ähnlich geworden. Rabbi Löw zerstörte den Golem von Prag.«
    »So weit die Geschichte, die alle kennen.«
    Steerforth lächelte kurz. »Eines Tages aber, als Rabbi Löw schon alt war und glaubte, bald seinem Schöpfer gegenübertreten zu müssen, da bekam er Kunde von einem Fund nahe Tarragona in Spanien. Einen Sarkophag hatte man dort entdeckt mit Inschriften in Hebräisch, Griechisch und Latein. Ein Name prangte als Siegel auf dem Stein: Lazarus. Und die Texte sprachen von Bildern, ohne die eine Schöpfung niemals möglich ist.«
    »Bildern?«
    Steerforth nickte. »Im Besitz dieses neuen Wissens versuchte sich Rabbi Löw erneut daran, ein lebendiges Wesen aus toter Materie zu erschaffen. Nur nahm er dieses Mal keine Erde, keinen Lehm, sondern das, was von einem Menschen bleibt, wenn seine Seele ihn verlassen hat. Mit einem Diener suchte er des Nachts den alten Friedhof auf. Am Tag zuvor hatte man dort einen Jüngling begraben, der, so erzählte man sich, von Wegelagerern ausgeraubt und dann in die Moldau geworfen worden war. Rabbi Löw fertigte ein Gemälde an, ein Porträt des Jünglings. Und mit einer heißen Nadel schrieb er das Wort auf dessen tote Zunge, die wieder zu leben begann. Mit dem Blut, das die Nadel benetzte, malte er das Innerste der Augen des Porträts.«
    »Und der Jüngling?«
    »Der Jüngling lebte wieder. Er konnte atmen und lachen und weinen und sich an vieles erinnern und an vieles nicht. Er betrachtete das Porträt, und der Rabbi erklärte ihm, dass sein Leben nur in dem Porträt enden würde. Dass er ein Werk des Allmächtigen sei, das

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