Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
Winternacht, in der wir nach Marylebone heimgekehrt waren. Jener Nacht, in der wir die Stadt der Schornsteine so ganz anders vorfanden, als sie es noch vor unserer Abreise nach Prag gewesen war.
Die Flucht aus der seltsamen uralten Metropole an der Moldau war uns durch die Spiegel gelungen.
Seltsamerweise kamen uns dabei keine Mala’ak ha-Mawet in die Quere, und das war etwas, das bereits von Anfang an mein Misstrauen erregte. McDiarmid hatte sich mit Lord Brewster aus dem Staub gemacht, noch bevor die Menora die Lade ganz geöffnet und den Lichtlord in einer Flut aus gleißendem Licht in die Freiheit entlassen hatte. Alle hatten wir damit gerechnet, dass in den folgenden Minuten kriegerische Mala’ak ha-Mawet im Tempel auftauchen würden.
Weit gefehlt.
Nichts dergleichen geschah.
Stattdessen gelangten wir nahezu unbehelligt durch ein System abfallender Tunnelgänge zum großen Park am Laurenziberg, der an der Kleinseite und ganz in der Nähe des Schlosses liegt. Dort befand sich in einem hölzernen Pavillon ein Amüsierkabinett mit Zerrspiegeln und Lichtern und optischen Täuschungen aller Art. Die Böden in diesem Haus der Illusion verliefen schräg und erzeugten sofort bei Eintreten einen Schwindel, der durch die Spiegel noch verstärkt wurde, da alle Dimensionen in diesem Labyrinth wirklich aufs Äußerste verzerrt waren. Man rang um sein Gleichgewicht, sobald man den Pavillon betrat, und fand es vermutlich erst wieder, wenn man das seltsame Gebäude verließ.
»Und was sollen wir jetzt tun?« Wie immer war Emily ungeduldig.
Lucifer und Lilith, die nicht mehr voneinander wichen, seitdem der Lichtlord wieder zum Leben erweckt worden war, betrachteten ihre verzerrten Fratzen in den großen Spiegeln. Eine ungewöhnliche Ruhe umgab die beiden. Geradeso, als verschwände die ganze Welt hinter der Tatsache, dass sie wieder zueinander gefunden hatten.
Nie zuvor hatte Emily die junge Frau so strahlen sehen, und auch Lucifer sah glücklich aus.
Beide wirkten jünger als zuvor. Weil sich ihrer beider Augen verändert hatten. So, wie Augen es immer tun, wenn sich etwas Bedeutsames im Leben ereignet hat.
Etwas wunderbar Unerwartetes.
Die beiden verhielten sich auch anders.
Sonniger.
Lebendiger.
Unbeschwert wie frisch Verliebte, wenn sie sich an einem Sommerabend am Embankment umarmen.
Glücklich.
Alle anderen indes standen ratlos und abwartend im Raum und wurden von den schemenhaft missgestalteten Spiegelbildern ihrer selbst beobachtet. Nicht eine einzige Wand ohne Spiegel gab es im Inneren des Pavillons.
»Er hat gesagt, dass uns jemand erwarten würde«, entfuhr es Emily. »Jemand, den wir kennen.«
»Dorian Steerforth war ja auch schon früher äußerst vertrauenswürdig.« Aurora Fitzrovia, die unterwegs von ihrer Freundin über das, was in Prag geschehen war, in gebotener Kürze informiert worden war, erinnerte sich nur mit Widerwillen an den gut aussehenden Aphroditen.
»Er hat sich verändert.«
»Bist du dir da so sicher, Emmy?«
Bevor sie antworten musste, tauchte tief in den Spiegeln ein Gesicht auf, verzerrt und fratzenhaft. Die spiegelnde Sonnenbrille, die das bleiche Gesicht mit dem Spitzbärtchen dominierte, zeigte die Spiegelbilder aus den alles in einer unnatürlichen Schräge spiegelnden Zerrspiegeln. Das leuchtend rote Haar war wie eine Flamme in der Dämmerung der Spiegeltiefe. Dr. Dariusz, der auf der anderen Seite der Spiegel auf uns gewartet hatte, streckte die Hände aus und bedeutete uns, das Gleiche zu tun. Sein Mund formte Worte, die wir nicht verstanden, doch machten uns Gebärden und Mienenspiel schnell klar, dass wir einfach nur die Handflächen auf die Spiegelflächen legen mussten.
Lilith war diejenige, die den Anfang machte.
Sie legte ihre Handflächen auf die des Doktors.
Spinnenartig verzerrte Finger aus Spiegelglas schlossen sich um jene aus Fleisch und Blut, Spiegelaugen schauten in Spiegel spiegelnde Augen, und es sah aus, als griffe das Spiegelglas selbst nach der Hand mit den Tätowierungen und den vielen Ringen.
Lilith trat näher an die Glasfläche heran, und ihr Gesicht berührte im Spiegel ihr Spiegelgesicht.
Dann schluckte der Spiegel sie.
Mit Haut und Haaren.
Sozusagen.
»Ist das alles?«, fragte Neil skeptisch. Er hatte Mala’ak ha-Mawet erwartet, die uns an dem, was auch immer wir vorhatten, zu hindern versuchen würden.
Es geschah jedoch … nichts!
Ein Schritt auf den Spiegel zu, und wir würden Prag verlassen.
Konnte dies wirklich alles
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