Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
die Lippen.
»Sei still«, sagte sie. »Du hattest mich schon nach dem Hallo.« Dann fiel sie ihm stürmisch um den Hals und küsste ihn und heulte wie ein Schlosshund, ganz hemmungslos und wie von Sinnen. Und Adam Stewart drückte sie an sich, wie er es schon viel, viel früher hätte tun sollen. Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar, und sie spürte ganz deutlich, wie sehr er zitterte. »Oh, Adam, warum, in aller Welt, bist du fortgegangen?«
Er sah schuldbewusst aus. »Weil ich ein Trottel war?«
Sie musste lachen. »Ja, genau. Weil du der Welt größter Trottel warst.«
Dann küssten sie einander erneut.
Und das Leben war plötzlich wieder ein Lied, das der wispernde Winterwind zu den Sternen emportrug.
Er hatte gewusst, dass er nach London zurückkehren würde. Ja, von Anfang an hatte er es gewusst. Das Theater und die Musik waren genau so, wie er es sich in seinen Träumen ausgemalt hatte. Und doch … war die Stadt ihm fremd. Dabei hatte er sich immer schon wohl gefühlt in der Metropole an der Seine. Nicht überall in der Stadt, natürlich nicht, doch oben auf dem Hügel von Montmartre, da, wo die Boheme daheim war. Wo die Nächte lang waren und es Musik gab und Bilder und Schriftsteller, die hemmungslos aus ihren Werken lasen. Dort, so hatte er sich ausgemalt, würde er die nächsten Monate verbringen. Dort, davon war er überzeugt gewesen, läge seine Zukunft.
Toulouse hatte ihm ein Zimmer besorgt, kaum größer als eine Abstellkammer voller Gerümpel. Dafür aber im Hotel Absinth, einer Absteige in Montmartre, wo die Kinder der Revolution daheim waren. Zwischen dem Qualm tummelten sich allerlei wilde Gedanken, wurden Malerei und Musik neu definiert und, am Ende, Kunst geschaffen.
Nicht mehr, nicht weniger.
Ja, Adam Stewart war dort angekommen, wo er immer hatte sein wollen. Im Zentrum der Boheme. Was seinen jetzigen Aufenthalt von früheren unterschied, war der Lohn, den man ihm für seine Tätigkeit am Theater zahlte. Zum ersten Mal seit Jahren würde er für mehrere Monate über ein festes Einkommen verfügen. Es versprach eine gute Zeit zu werden.
Das jedenfalls hatte er angenommen.
Doch kaum dass er in Paris war, da fehlte ihm etwas.
Etwas, das ihn die Melodien hatte hören lassen, die seine Finger dann in den Saiten gesucht hatten.
Sie fehlte ihm.
Emmy.
Wenn er des Nachts allein auf der alten Matratze lag und die Decke mit den Wasserflecken anstarrte, da zauberten die Schatten das Gesicht seiner Freundin an die Wand. Nun ja, in seinen Augen war sie noch immer genau das: seine Freundin. Das Mädchen, dem er am Piccadilly Circus ganz spontan ein Gedicht zum Geschenk gemacht hatte. Im Sommer war das gewesen. Sie waren durch die Stadt spaziert und schließlich beim Engel der Barmherzigkeit gestrandet, inmitten des tosenden und hupenden Verkehrsgewimmels. Adam hatte einen Zettel aus der Hosentasche gekramt und einige Zeilen darauf niedergeschrieben. Zeilen, die er der jungen Frau an seiner Seite vorgetragen hatte. Und dann hatte er ihr den schon restlos zerknitterten Zettel zum Geschenk gemacht.
»Emily«, flüsterte er jetzt ihren Namen.
Manchmal.
Nein, oft.
Viel zu oft.
»Emily Laing aus Rotherhithe.«
Er sah ihr Mondsteinauge in den wabernden Schatten und das rote Haar und das andere helle Auge, in dem er förmlich hatte versinken können. Er hörte ihre Stimme und erinnerte sich an den Geruch ihrer Haut. An ihren Gang, der ein wenig hölzern wirkte oder ein wenig beschwingt sein konnte, je nach Laune. Er sah sie vor sich, wie sie mürrisch und müde beim Frühstück saß, wie ihr der Kopf immer schwerer zu werden schien und ihr Haar manchmal am Toast kleben blieb oder mit den Spitzen in der Teetasse schwamm. Ganz zerstreut konnte sie sein, früh am Morgen. So ernst und grüblerisch. Und dann wieder verrückt. Laut lachend dummes Zeug reden.
Emily Laing, das wurde Adam Stewart von Tag zu Tag klarer, hätte bei ihm sein sollen.
Je länger er sich in Paris aufhielt, umso mehr verlor die Stadt an Zauber für ihn. Denn das, was in seinem Leben den Zauber ausmachte, fehlte. Emily fehlte ihm. Mehr, als er sich einzugestehen wagte. Adam war hierher gekommen, um zu komponieren. Über die Schönheit hatte er schreiben wollen, die Wahrheit, das Leben und die Liebe. Ja, vor allem die Liebe. Doch wie konnte er so töricht gewesen sein zu glauben, dass er über die Liebe schreiben könne, wenn er sich von seiner Liebe entfernte?
Es war Toulouse gewesen, dem aufgefallen war, dass Adam nicht
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