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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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schlichen leise durch die Ausstellungsräume. Elisabethanische Galeonen hingen an der Decke, in Vitrinen standen die Modelle moderner Fracht-, Passagier- und Kriegsschiffe. Es gab eine Ausstellung über die Fahrten des Kapitän Cook. Ein Modell der Nautilus. Relikte aus dem Seehandel des Empire, den Napoleonischen Kriegen. Sogar jene Uniform, die Lord Nelson bei der Schlacht von Trafalgar getragen hatte, inklusive des vermeintlich tödlichen Einschusslochs mit den verräterischen Blutspuren. Die Kugel, die Lord Nelson damals angeblich getötet hatte, lag auf einem Samtkissen in einer Vitrine gleich daneben.
    »Die Welt«, sagte ich, »ist manchmal sehr leichtgläubig.«
    Wir ließen die königlichen Barken und Gondeln hinter uns und gingen an den Gemälden vorbei, die in Öl geschaffene Schiffe, Stürme, Schlachten und Schlünde sowie einen Mahlstrom und einen weißen Wal zeigten. Maritime Mythen und Welten wurden hier wieder lebendig, als seien sie nie von uns gegangen. Und es wurde Emily wieder einmal bewusst, warum Neil Trent die See so liebte. Warum er ein Leben auf den schwankenden Planken eines Schiffs demjenigen an Land immer vorziehen würde. Inständig hoffte sie, dass es Neil und Aurora gut ging, wo immer sie auch waren.
    »Woran denkst du?«
    Emily sagte es ihm.
    Adam ging neben ihr her, und allein das zählte im Augenblick.
    Wir verließen das Museum und traten vorsichtig nach draußen.
    Dunkle Wolken hingen über London. Auf den Hügeln von Hampstead Heath brannten Feuer, und weiter vorn, in Spitalfields, flimmerte der Himmel so heiß, dass selbst der Schnee auf den spitzen Dächern geschmolzen war, weil die Dürre den Stadtteil heimgesucht hatte.
    Den King William Walk ließen wir schnell hinter uns. Vor uns erstreckte sich das Themseufer mit Blick auf die hässlichen Geschäftsgebäude auf der anderen Flussseite. Eine dicke Eisschicht bedeckte den Fluss, und es sah aus, als tobten Kämpfe unterhalb der Tower Bridge.
    Emily beobachtete entsetzt, was aus der Stadt der Schornsteine geworden war. Alles schien so weit fort zu sein, und doch war es ganz nah. Dort drüben starben Menschen.
    Bald ist Weihnachten, dachte sie.
    »Kommen Sie!«, drängte ich.
    Wir hatten nicht viel Zeit.
    Die Black Friars würden von der Explosion erfahren und sich womöglich zusammenreimen, wohin es uns verschlagen hatte. Besser, wir verschwänden von der Straße.
    »Da ist sie!«
    Vor uns erhob sich der Bug der Cutty Sark, die einst die Weltmeere befahren hatte und jetzt ihren Platz am Greenwich Pier gefunden hatte. Wenn man vor dem Klipper stand, dann schien die Zeit zurückgedreht zu sein, und die alten Zeiten, in denen das Empire die Meere sein Eigen genannt hatte, waren auf einmal wieder greifbar. Da war das Holz, das die Spuren so vieler Stürme erkennen ließ. Die Masten, die hoch hinaufragten, und die Takelage, in der einst Seeleute herumgeklettert waren. Wenn der Wind vom Fluss her wehte, dann knarzte das alte Holz, und es war, als wolle das Schiff zu einem sprechen.
    Es war Adam, der gegen den Rumpf der Cutty Sark klopfte und Einlass erbat.
    »Wer ist da?«, erklang eine Stimme von drinnen, alt und krächzend wie das Salz des Meeres.
    »Mortimer Wittgenstein«, rief ich hinauf.
    Stille.
    Nichts geschah.
    Adam klopfte erneut.
    Ein Bullauge wurde geöffnet und gleich wieder zugeschlagen.
    Dann fiel eine Strickleiter nach unten.
    »Hinauf, hinauf!«, krächzte die alte Stimme von oben.
    Adam machte den Anfang, gefolgt von Emily.
    Ich bildete das Schlusslicht.
    Oben angekommen, konnten wir weit über die Themse blicken, die eine einzige Eisfläche geworden war. Weiter flussaufwärts steckte die H.M.S. Belfast in den Eismassen fest, und dunkle Punkte, die Menschen sein mochten, liefen zwischen dem Kriegsschiff und dem Tower von London auf dem dunklen Fluss herum.
    »Wittgenstein, Miss Laing.« Er betrachtete den jungen Mann.
    »Adam Stewart«, sagte Adam.
    »Mister Stewart.«
    Alt und dürr war der Mann, der uns oben an Deck begrüßte. Das faltige Gesicht mit den traurigen Augen und der breiten Nase war jetzt ungeschminkt. Am Trafalgar Square trat er oft als Clown auf, verkleidet als derjenige, der er einst gewesen war. Doch jetzt trug er weder die Uniform noch den Admiralshut, der uralt und echt aussah, wenn er ihn trug, weil er genau das war, nämlich uralt und echt. Wie Lord Nelson selbst, dessen wahrer Name Horatio Haythornthwaite lautete.
    Einige Tauben saßen in der Takelage und gurrten träge.
    »Lächeln Sie«,

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