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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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würde jemand nach seinem Bewusstsein greifen, doch dann war es ihm gelungen, dieses seltsame Gefühl abzuschütteln. An Aurora hatte er denken müssen, an sein Mädchen, das allein und trauernd an seines Vaters Grab gestanden und geweint hatte, und es war dieser Gedanke gewesen, der ihn vorangetrieben hatte. Er musste das hier überstehen, damit er Aurora wiedersehen konnte. Er würde ihr alles berichten, und sie würde verstehen, warum er so lange fort gewesen war.
    Dann war er über ein Rangiergleis geschlüpft, und die Nebel hatten ihn auf einem Abstellgleis der Hammersmith Line gestellt.
    Er hat kaum noch geatmet, als ich ihn fand. Wie schlafend hat der Junge auf den Gleisen der City Line gelegen. Die fremden Nebel waren in ihm und hatten ihn gezwungen, sich dort hinzulegen.
    »Ich weiß bis heute nicht, was Londons Efeu mit mir gemacht hat«, gab Neil zu, »aber ich bin ihm auf ewig zu Dank verpflichtet.« Er lächelte der nebelhaften Erscheinung zu, die ihre Form so wechselte, dass sich das Licht freudig in den winzigen Tropfen brach.
    Emily dachte daran, wie es gewesen war, den Nebel im Mund zu spüren, auf der Zunge, so kalt und lebendig. In der Pestgrube hatten wir beide einen Einblick in das bekommen, was Londons Efeu auch mit Little Neil angestellt hatte.
    Neil Trent hat mich eingeatmet, und dann habe ich die fremden Nebel geschluckt und das getan, was ich tun musste. Für einen kurzen Augenblick war ich das Bewusstsein des Jungen, und seine Arme und Beine haben nur mir gehorcht. Londons Efeu waberte hell und weiß um die alten Grabsteine herum, streifte Rohre und Leitungen und schwebte vor uns in der Luft wie ein Geist aus alter Zeit. Er verließ die Gleise, bevor der nächste Zug vorbeirollte. Seine Beine folgten den Pfaden, die ich ihnen zu gehen auftrug, und so gelangte er nach White City. Doch war der Junge nach wie vor ohne Kraft. Die Nebel, das müsst Ihr wissen, sind wirklich äußerst gefährlich. Giftig, boshaft, ansteckend. Er hat die letzten Monate hier unten in White City verbracht und ist nur langsam wieder genesen. Die Geister der Toten, deren Geschichten ich ihm erzählt habe, waren seine Pfleger. Und als er dann wieder bei Kräften war, hat er mich gebeten, ein Auge auf Euch zu haben. Londons Efeu lachte, und wenn er Augen besessen hätte, dann hätte er uns wohl ein Zwinkern geschenkt.
    Allein, die Zeit verläuft hier anders als in London, und daran kann ich mich noch immer nicht ganz gewöhnen. Nur wenige Wochen folgt man den Pfaden der uralten Metropole, und oben in London, das schon lange nicht mehr die alte Stadt der rauchenden Schornsteine ist, ist eine neue Welt entstanden. Als ich die Straßen der Stadt verließ, da war gerade die erste elektrische U-Bahn-Linie von Banks nach Stockwell eröffnet worden. Und als ich wieder nach oben stieg, da hatten zwei große Kriege stattgefunden, und es gab neue Auswüchse wie das Lloyd’s Building, den Canada Tower und das Barbican im Gesicht der Stadt. Dabei waren keine zehn Jahre vergangen gewesen, für mich jedenfalls.
    Und Emily Laing, die mit dieser Eigenart der uralten Metropole sehr wohl vertraut war, verstand, was geschehen war. Die Zeit tickte in der uralten See und auch in der uralten Metropole anders. Deswegen war Neil Trent erst spät nach London zurückgekehrt, und deswegen war er erst jetzt zu uns gestoßen.
    Was blieb, war die Frage, die zu stellen am Ende Neil oblag: »Was werden wir jetzt tun?«
    Ich sagte es ihm.
    »Wir werden uns trennen«, schlug ich vor.
    Denn die Zeit drängte.
    Neil Trent wirkte skeptisch. »Das ist Ihr Plan?«
    Ich nickte.
    »Das«, betonte ich, »ist unser Plan.«
    Londons Efeu lauschte aufmerksam meinen Worten und willigte ein.
    Wir hatten einen neuen Verbündeten gefunden.
    Und so brachen wir auf.
    Verließen White City auf getrennten Pfaden.
    Und ahnungslos und guten Gewissens setzten wir die Ereignisse in Gang, die Londons Schicksal bestimmen würden.

Kapitel 11
Manderley Manor
    Es war bereits später Abend, als Tristan Marlowe und Aurora Fitzrovia ins Britische Museum zurückkehrten. Auf dem Rückweg vom Himmel der Urieliten hatte Aurora kurz mit ihren Pflegeeltern telefoniert und ihnen versichert, dass es ihr gut gehe. Was, in Anbetracht der Tatsachen, eine ausgesprochen dreiste Lüge gewesen war.
    »Wenn Lord Gabriel dem Nyx zu Diensten ist, dann haben wir es hier vielleicht mit einer Verbindung zu tun, die uns alle ins Verderben stürzen kann.« Tristan Marlowe war außergewöhnlich

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