Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Gesicht eines Kojoten trat hinter dem Vorhang hervor. Er trug einen Nadelstreifenanzug. Dazu rot-weiße Turnschuhe. »Ich heiße Sie willkommen.« Er stützte sich auf einen Gehstock, dessen Knauf ein Schakalkopf aus Silber war.
»Anubis?«, hakte ich nach.
»Kennen wir uns?«
»Ich bin Anthea Atwood aus Brooklyn«, stellte ich mich kurz vor. »Ich dachte, Ihr wärt der Lichtlord?«
»Sie sind sehr direkt, meine Gute.« Er schüttelte amüsiert den Kopf und zog die Lefzen zu einem Grinsen zurück. »Doch ich muss Sie enttäuschen. Nein, ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Da haben Sie sich wohl geirrt.«
Ich zuckte die Achseln.
»Das scheint Ihnen öfter zu passieren, nicht wahr?«, flüsterte Scarlet mir zu.
Ich knurrte eine knappe Erwiderung, sonst nichts.
»Ich bin weder der Lichtlord, noch bin ich Anubis.« Er blieb oben auf der Bühne stehen, stützte sich auf den Gehstock. »Ich bin nur der Kojote. Schon immer gewesen.«
»Ihr seht aber aus wie Anubis«, sagte ich.
»Wir sind …« Er suchte nach Worten, sagte schließlich: »Verwandt.« Er stieß einen Laut aus, der ein Lachen hätte sein können, wären seine Augen nicht so dunkel und ernst geblieben. »Anubis hat kein gutes Verhältnis zu den Spinnen, das hatte er noch nie.«
»Was tut Ihr hier?«
»Ich stehe Lady Solitaire bei. Außerdem bin ich derjenige, dem die Wendigo in die Stadt gefolgt sind.«
»Wer sind sie wirklich, die Wendigo, meine ich?«
»Das wissen Sie nicht, Mistress Atwood?« Er schien überrascht. »Immer, wenn Wolf und Mensch miteinander gekämpft haben und beide in diesem Kampf gestorben sind, ist der Geist eines neuen Wendigo entstanden. Er vereint die Seelen, die auf so schmerzhafte Art und Weise verloren gingen. Sie wurden ein Leib und ein Geist. Der alte Konflikt, der sie beide hat sterben lassen, lebt in den Wendigo fort. Es ist kein schönes Leben.«
»Doch treu ergeben sind sie immer demjenigen, der ihnen Verständnis entgegenbringt.« Lady Solitaire bewegte sich langsam auf uns zu. Sie kraulte einem Wendigo im Vorbeigehen das Fell. Die riesige Kreatur neigte den Kopf zur Seite und ließ ein leises Winseln hören, so zart, wie man es einem Wesen dieser Größe gar nicht zugetraut hätte. »Jedes Wesen verdient es,« sagte Lady Solitaire, »dass man ihm mit Verständnis und Respekt begegnet. Auch die Raubtiere. Auch jene, die wir nicht verstehen.« Der Wendigo erhob sich wieder, winselte noch ein letztes Mal und sah dann wieder so mordlüstern und gierig aus wie zuvor. »Wir tun doch alle nur, was unserer Natur entspricht, nicht wahr?!«
Scarlet stand wie angewurzelt da.
Jake wich nicht von ihrer Seite. Er hatte eine Hand in der Manteltasche, wo er normalerweise ein Messer aufbewahrte.
»Sie sind vor zwei Tagen schon hier eingedrungen«, sagte Lady Solitaire, und einer der Wendigo kam auf Scarlet zu. Jake stellte sich schützend vor sie. »Tun Sie das nicht, Mr. Sawyer«, warnte sie ihn mit leisen Worten. »Ihrem letzten Begleiter ist es nicht gut bekommen, als er sie zu schützen versuchte.«
Scarlet schaute auf.
Ihr letzter Begleiter?
»Was wisst Ihr?«
»Alles!« Lady Solitaire genoss ihren Auftritt. Wie ein einziger Schleier aus Stoff und Haaren wehte sie den Gang entlang. Scarlet fragte sich, wie alt sie wohl war. Sie wirkte jünger als sie selbst, aber in ihren Augen gefror ein Feuer, das viel älter sein musste.
»Alles?«
Die Wendigo umzingelten sie, aber keiner kam ihr zu nah, sie alle waren sehr vorsichtig. Ihre Krallen kratzten über den
roten Teppich, der überall den Boden bedeckte. Ihr eisig kalter Atem war wie Nebel in der warmen Luft des Theaters.
»Warum ist es so kalt hier drinnen?«, fragte Scarlet.
»Ich bin ein kalter Mensch«, antwortete Lady Solitaire, und etwas an dieser Aussage schien sie nachdenklich zu stimmen. »Wo ich bin, da ist der Winter. Das war schon immer so. Ich bin das eiskalte Wintermädchen, bei dessen Anblick die Menschen erstarren.«
»Ihr seid wunderschön«, stammelte Scarlet. Sie wusste nicht, warum sie das sagte. Aber es war das, was sie dachte.
»Die meisten Menschen«, sagte Lady Solitaire mit einem Anflug von tiefem Bedauern, »bewundern doch das am meisten, was sie im Innersten frieren lässt.« Sie blieb stehen. »Ich bin noch so jung wie vor Hunderten von Jahren. Die Zeit ist trotzdem nicht meine Freundin. Sie ist niemandes Freundin. All die Jahre gehen spurlos an mir vorbei. Haut, Haar, Körper, alles bleibt, wie es immer schon war. Doch das
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