Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Eine Pfütze aus Eiswasser und Blut spiegelte das Neonlicht. »Aber ich habe doch gar nichts getan.«
»Jemand anders hat etwas für Sie getan, Miss Scarlet.« Sie seufzte. »Sind Sie verletzt?«
»Nein.« Ich trat auf die Pfütze zu. »Wir hatten Glück.« Scarlet schwieg.
»Sie erwähnten ein Amulett«, hakte ich nach. »Vorhin, auf der Straße.«
Sie kramte es aus ihrer Manteltasche hervor. »Ich habe keine Ahnung, wo es herkommt.« Sie hielt das kleine Röhrchen mit seinem bunten Inhalt hoch, so dass sich das Licht in dem klaren Wasser brechen konnte und die Steinchen in seinem Inneren funkeln ließ.
»Amulette tragen häufig einen Schutzzauber in sich.«
»Sie glauben, dass der Wendigo gestorben ist, weil ich dieses Amulett bei mir trage?«
»Könnte sein.«
»Aber woher habe ich es?«
»Von einem Algonkin.«
Sie sah mich fragend an.
»Dies ist ein Amulett der Algonkin-Stämme. Irrtum ausgeschlossen. Ja, sieht genau aus wie ein Amulett der Algonkin. Glauben Sie mir nur, Miss Scarlet, damit kenne ich mich aus.«
»Mit Amuletten?«
»Und anderem.«
»Ich kenne aber keine Algonkin«, gab Scarlet zu bedenken.
»Offenbar tun Sie es doch. Das da ist ein richtiges Amulett, kein Trödel.«
»Und warum ist es so stark?«
Ich lauschte in den Tunnel hinein.
Es war nichts zu hören.
»Miss Scarlet«, sagte ich und bedachte jedes meiner Worte sehr wohl. »Das war ein Zauber, der Ihr Leben schützen sollte. Ein mächtiger Zauber. Nicht einfach zu brechen von einem Wesen wie dem Wendigo. Er konnte Ihnen nichts anhaben, so sehr er es auch versucht hat. Ein Zauber wie dieser ist nicht einfach zu bewerkstelligen. Jede Magie hat ihren Preis, müssen Sie wissen, und derjenige, der dieses Amulett erschaffen hat, musste einen außerordentlich hohen Preis dafür zahlen, darauf halte ich jede Wette.«
»Was meinen Sie?«
»Jemand hat all seine Lebenskraft diesem Amulett anvertraut«, sagte ich und beobachtete sie dabei. »Und dieser Jemand, wer immer es auch gewesen sein mag, hat das getan, um Sie, Miss Scarlet, zu schützen.«
»Soll das heißen …?«
»Jemand ist gestorben, damit Sie leben können.«
Scarlet erschauderte. Wie konnte das sein? Wie konnte es sein, dass sie sich an nichts von alledem erinnerte? Es war nicht richtig. Nein, es war einfach nicht richtig.
»Jemand ist so gestorben, wie Sie vorhin hätten sterben können. Jemand hat sich sein Leben von einem Wendigo nehmen lassen, um die letzte Kraft, die ihm verblieb, in dieses Amulett zu geben. Es ist ein Geschenk.«
Scarlet schluckte und atmete tief durch. Die Worte fehlten ihr, aber die Tränen, die in ihren Augen funkelten, sagten alles, was es zu sagen gab.
»Wie dem auch sei«, fuhr ich fort, »wir sollten diesen unschönen Ort hier schleunigst verlassen. Der Wendigo war hinter Ihnen her, das wissen wir jetzt – und eingedenk der
anderen Dinge, die sich neuerdings überall in der Stadt zutragen, sollten wir uns auf den Weg machen.«
»Welche Dinge?«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte ich.
»Nun sagen Sie schon!«
»Eistote. Und das ist noch lange nicht alles.«
Vor uns aus dem Tunnel hörten wir die Bremsgeräusche eines einfahrenden Zuges. Die Luft, die uns entgegenwehte, war so schwül und so abgestanden, wie sie es sein sollte in der Subway.
»Eistote?« Sie musste an den Obdachlosen im Park denken. An den Ausdruck von Furcht und Reue in dem erfrorenen Gesicht. Niemand würde den alten Mann vermissen, niemand würde um ihn trauern.
»Gehen wir, Miss Scarlet!«
Scarlet wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und folgte mir zum nächsten Bahnsteig, der zu dieser späten Nachtstunde vollkommen verlassen war. Große Plakate, die neue Filme und Theaterstücke am Broadway ankündigten, zierten die gekachelten Wände.
Mit einem scharrenden Quietschen fuhr der Zug nach Brooklyn ein und kam zum Stehen.
Niemand stieg aus.
»Wir werden Antworten finden«, sagte ich.
Sie nickte nur traurig.
Wir stiegen ein.
Die Türen schlossen sich.
Wir nahmen auf den Plastiksitzen Platz.
»Wir haben es also geschafft«, stellte ich fest, als der Zug endlich losfuhr.
Unsere müden Spiegelbilder tanzten zwischen den Positionslichtern,
die hin und wieder in der Finsternis vor dem Wagenfenster auftauchten.
»Was wissen Sie über diese Wesen?«, fragte Scarlet schließlich.
»Die Wendigo?«
»Ja.«
»Es sind böse Geister. Die Algonkin glaubten, dass es die Geister der tiefen Winterwälder sind. Ja, sie leben in den Wäldern Minnesotas, und
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