Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
früher, so sagt man, kamen sie in den kalten Wintern aus den Schatten, begleitet von Stürmen und Eis und tiefem Schnee. Dann fraßen sie das warme Fleisch der Lebenden. Diejenigen, die sich in die Wälder hineintrauten, um Feuerholz zu schlagen, kehrten meist nicht von dort zurück. Laut den Legenden gab es viele Möglichkeiten, wie man zum Wendigo werden konnte. Wenn eine Hungersnot das Land heimsuchte, dann kam es nicht selten vor, dass Menschen das Fleisch anderer Menschen aßen, um zu überleben. Das passierte leider zuweilen. Jemand, der sich zu solch schändlichen Taten herabließ, wurde unweigerlich zu einem Wendigo. Und all jene, die von einem Wendigo träumten, waren ebenso dazu verdammt, seine Gestalt anzunehmen. Man konnte dem Wendigo nur entgehen, indem man in seiner Hütte blieb und sich ruhig verhielt.« Draußen raste ein Bahnsteig nach dem anderen vorbei. »Die Trapper und Pioniere, die ins unentdeckte Land gingen, berichteten als Erste davon. Es gibt unzählige Geschichten, aber man weiß nicht wirklich etwas über sie.«
»Wir wissen jetzt immerhin, dass sie sich in die Subway hinabtrauen.«
Nur ungern stimmte ich ihr zu. »Einige der indianischen Gelehrten glauben sogar, dass der Wendigo seine Gestalt
fortwährend verändert. Die Opfer, die er vertilgt hat, werden nach ihrem Tod ein Teil von ihm. Der Wendigo, der uns angegriffen hat, muss sehr viele Menschen auf dem Gewissen gehabt haben. Er sah sehr menschlich aus. Die Wendigo in den Wäldern laufen auf allen vieren, sagt man.«
»Warum war er hinter mir her?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber es gibt Gerüchte.«
»Gerüchte?«
Ich nickte. »Gerüchte, schlimme Dinge betreffend.«
Sie starrte mich an. »Nun sagen Sie schon, was sind das für Gerüchte?«
»Ich werde es Ihnen bald erklären.«
»Aber nicht jetzt.«
Ich zwinkerte ihr zu. »Nein, nicht jetzt.«
»Sondern?«
»Später. Sie sollten jetzt ein wenig zur Ruhe kommen.«
Scarlet betrachtete ihre Hände. Ihre Finger berührten langsam und zögerlich das getrocknete Blut darauf. »Es ist so schlimm, all diese Dinge nicht zu wissen«, gestand sie mir, und dann faltete sie die Hände und begann zu weinen, still und leise.
Ich beugte mich zu ihr und legte meine Hand auf ihre. Das war alles, was ich jetzt für sie tun konnte.
Draußen raste die dunkle Welt des Untergrunds an uns vorbei. »Diese Stadt ist viel größer, als es den Anschein hat«, bemerkte ich.
»Ich weiß«, flüsterte Scarlet leise und schaute ihr Spiegelbild im Fenster an. »Ich weiß nicht, warum ich es weiß, aber ich weiß, dass es eine andere Stadt gibt.« Sie war schon einmal dort gewesen, sie konnte die matte Erinnerung, die sie
nicht mehr besaß, fast schmecken. Sie war da, irgendwo dort draußen in der Nacht, wo die Stadt unter der Stadt existierte, all die vielen Jahre schon, zusammen mit den anderen Antworten, zu denen sie nicht einmal die Fragen wusste.
Alles war da, wo ihre Tränen hinflossen.
Tief, tief an den Orten, die voller Geheimnisse waren.
»Wir werden uns auf die Suche nach Ihren Erinnerungen begeben. Doch nicht heute.« Ich ließ ihre gefalteten Hände nicht eher los, als bis das Zittern endlich nachließ und die Tränen verebbt waren. »Nein, bestimmt nicht heute«, wiederholte ich, und dann erreichten wir Brooklyn Heights. »Denn morgen, Miss Scarlet, ist auch noch ein Tag.«
KAPITEL 3
MYRTLE’S MILL
Die dichte Wolkendecke am nächtlichen Himmel war aufgerissen, als wir die Subway endlich verließen und die Flatbush Avenue nahe der Brooklyn Academy of Music betraten.
Die Straßen, Häuser, kahlen Bäume, Hydranten und Parks waren allesamt mit einer feinen Schneeschicht bedeckt. Der Wind, der durch die Straßen wehte, war kalt – aber nicht so eisig wie jener Blizzard, der die Wendigo begleitet hatte. Gotham verwandelte sich mehr und mehr in ein klirrendes Wintermärchen.
Vor kaum mehr als vier Tagen hatte es angefangen. Binnen einer einzigen Nacht war die Stadt in einem Wirbel aus Schnee gefangen gewesen, als befände sie sich in einer dieser Glaskugeln, die man nur schütteln muss, um eine neue Landschaft entstehen zu lassen. Wie ein Zauber war der Winter in diesem Jahr über New York gekommen, und wie ein Geheimnis war er geblieben.
Scarlet atmete tief durch.
Sie war niemand, der sich in den Tiefen der Erde wohlfühlte. Nein, sie war ein Kind der Natur, so viel war klar. Sie
spürte es, mit jeder, aber wirklich jeder Faser ihres Körpers.
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