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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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lächeln.
    »Sie tun das viel zu selten.«
    »Was?«
    »Lächeln.«
    »Ich …«
    »Die Magie«, sagte ich ihr, »kann überall sein.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ihr Lächeln, junge Miss Scarlet.« Ich strich ihr eine Strähne ihres Haars aus dem Gesicht. »Magie ist das, was wir tief in uns spüren, wenn wir lächeln.«
    Sie musste noch mal lächeln.
    »Genau das meine ich«, stellte ich zufrieden fest.
    Scarlet nickte nur, zögerlich, und zog den Kragen des Flickenmantels enger um sich.
    Dann gingen wir schnellen Schrittes die Flatbush Avenue entlang, bis zur nächsten Weggabelung, hinter der sich der Campus der Long Island University vor uns auftat. Dort bogen wir ab.
    Jetzt, im tiefsten Winter, sah der riesige und hochmoderne Gebäudekomplex nur kühl und ungastlich aus.
    »Im Sommer ist alles anders«, sagte ich. »Überall Studenten. Auf der Wiese, im Café oder im Schatten der Bäume. Ja, es würde Ihnen gefallen, denke ich. Sie sind ein Sommerkind.«
    »Glauben Sie?«
    »Das sieht man Ihnen an.«
    Scarlet antwortete nichts darauf. Schließlich fragte sie aber doch: »Und hier arbeiten Sie?«
    »Ja.«
    »Und Sie wohnen …?«
    »Gleich dort drüben, mitten im Park.«

    Wir überquerten den Campus, der verlassen war, und betraten den Park neben dem Campus durch einen Torbogen. Eine dichte Schneedecke hatte sich über den Park gelegt. Fußspuren waren keine zu erkennen.
    »Sie sind nachdenklich«, stellte ich fest.
    »Der Obdachlose, den der Wendigo am Washington Square angefallen hat, war zu Eis erstarrt.« Sie schaute zum Himmel hinauf, mitten hinein ins wirbelnde Weiß. »Er sah so traurig aus. So allein.«
    »Kommen Sie, gleich haben wir es geschafft.«
    Wir stapften den Weg entlang und hielten nicht eher an, als bis wir vor dem massigen Gebäude standen, das unser Ziel war. Hinter den Bäumen, die den Park zu allen Seiten säumten, hörte man den nächtlichen Verkehr auf der Myrtle Avenue wie ein leises Rauschen und Rasseln und irgendwo dahinter den flackernden Pulsschlag des Brooklyn Queens Expressway.
    »Wir sind da«, verkündete ich voller Stolz und deutete auf das Haus mit dem schrägen Dach. »Das da ist es.«
    »Eine ehemalige Wassermühle, ist das Ihr Haus?«
    »Das ist Myrtle’s Mill«, sagte ich.
    Scarlet staunte. »Sie sieht aus wie in einem Märchen.«
    »Manchmal ist das Leben eben ein Märchen.« Ich ging voran.
    Scarlet folgte mir, immer noch staunend. Sie hatte etwas Derartiges noch nie zuvor gesehen.
    Es war in der Tat eine uralte Wassermühle, mehrere Stockwerke hoch, mit einem Eingang, der von dichten Ranken umgeben war.
    Nichts Gewöhnliches umwehte dieses Gebäude, es atmete Geheimnisse aus jeder Pore. Die mächtigen Mauern waren
aus groben grauen Granitsteinen gefertigt, die vielen Fenster waren klein und wirkten zu dieser Stunde wie missmutig zusammengekniffene Augen, die in die Nacht zu spähen versuchten. Der Fluss, der einst das hölzerne Wasserrad in Bewegung gesetzt hatte, war längst verschwunden. Seit Jahren schon steckte das Mühlrad zur Hälfte in der Erde, und im Sommer wuchsen Gras und Moos auf den hölzernen Schaufeln.
    Oben, aus dem windschiefen Dach des Gebäudes mit seinen leuchtend roten Ziegeln, lugten die saftig grünen Wipfel eines wirklich riesigen Baumes heraus. Seine Äste und sein Blätterwerk breiteten sich wie ein Schirm über der Mühle aus.
    »Er trägt Blätter«, wunderte sich Scarlet. Laubbäume taten das im Winter nicht, normalerweise.
    »Das ist Myrtle«, erklärte ich.
    »Der Baum?«
    Ich nickte. »Myrtle ist ein alter Ahorn. Er war schon hier, bevor die Mühle errichtet wurde.«
    »Der Baum trägt einen Namen?«
    »Tun das nicht alle Bäume?«, stellte ich die Gegenfrage. Scarlet erwiderte nichts.
    Sie staunte nur, als wir uns dem Haus näherten. Rosenranken und wilder Efeu bedeckten die Mauern zu großen Teilen, und als wir auf die massige Tür zutraten, da wichen sie raschelnd und tuschelnd zur Seite, als habe sie jemand darum gebeten.
    In eine der Außenwände war eine große Uhr eingelassen. Ihre Zeiger waren dunkel und aus Eisen.
    »Die gehörte einmal zu einem Kirchturm«, sagte ich. »Und auch zu dieser Uhr gibt es, wie zu fast allem an diesem Ort,
eine kurze oder lange Geschichte zu erzählen. Aber, wie ich bereits sagte, nicht heute.«
    »Drüben aus der Mauer ragen Äste heraus«, stellte Scarlet fest und deutete auf die Stellen, die ihr aufgefallen waren.
    »Die Äste des Baumes reichen durch das ganze Haus«, sagte ich. »Sie werden es

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