Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
der Welt lagen in diesem kreischenden Ton.
Der Wendigo prallte von ihr zurück, als sei er auf eine unsichtbare Barriere gestoßen.
Scarlet starrte ihn an. Sie hatte nichts getan. Sie lag am Boden und konnte sich nicht wehren.
Sie hatte keine Ahnung, was gerade geschehen war.
Der Wendigo war schon fast über ihr gewesen, und als er sie berühren wollte, als sie schon erwartet hatte, die langen Krallen an ihrem Hals zu spüren, da war plötzlich nichts au ßer einem eisig kalten Hauch auf ihrer Haut geblieben. Der Wendigo hatte von ihr abgelassen, war zurückgeprallt, als habe sie ihm, was sie nicht getan hatte, einen Schlag versetzt.
Sie zitterte.
Dann sah sie es.
Sie sah, warum die Kreatur von ihr abgelassen hatte.
Die Klauenhand und die Hälfte des Arms waren nicht mehr da, wo sie einmal gewesen waren. Sie sahen nicht einmal mehr aus wie eine Klauenhand und die Hälfte eines Arms.
Sie waren nicht abgerissen worden, und sie lagen auch nicht im Tunnel herum. Nein, es sah so aus, als seien diese Körperteile des Wendigo geschmolzen. Eine unförmige Masse waren sie geworden.
Der Wendigo heulte.
Wie tobsüchtig wälzte er sich auf dem Boden, drückte den deformierten Arm gegen seinen Körper und knurrte die junge Frau wütend an. Er bellte kehlig wie ein verletzter Hund, und dann warf er sich erneut seinem Opfer entgegen, rasend vor Zorn. Die Bewegung hatte nichts Elegantes mehr. Sie war
reiner Instinkt, rohe Wut. Der Wendigo wollte sie töten, so viel war sicher.
Sein Keuchen war wie berstendes Eis, nur dunkler.
Ja, der Wendigo wollte sie töten. Er wollte Vergeltung für die Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte.
Scarlet schrie auf, kroch panisch auf dem Boden rückwärts in den Tunnel.
Sie erwartete erneut den Aufprall und die Schmerzen. Da waren die blendend weißen Zähne, die auf sie zugeschnellt kamen. Und dann wieder das Jaulen. Ein Eisbersten, kreischend und todesnah.
Die Schnauze des Wendigo schien dahinzuschmelzen, noch bevor sie Scarlets Halsschlagader zerreißen konnte. Sie zerfloss zu einer Masse, die weiß und blutig war.
Die Kreatur ging in die Knie.
Jaulend.
Noch immer zornig.
Mit der gesunden Klaue hieb sie sich auf die Stelle zwischen den Augen, an der vorher eine wohlgeformte Schnauze gewesen war. Der Wendigo hieb fest und wütend auf diese Stelle ein, als könne er mit den Schlägen seiner eigenen Klaue die lodernden Schmerzen vertreiben. Die schneewei ßen Augen spürten die junge Frau inmitten der Schmerzen und der Agonie auf, und Scarlet konnte sogar ihr Spiegelbild darin erkennen.
Erneut sprang die Kreatur auf sie zu – und für einen Augenblick bildete sich Scarlet ein, dass da noch ein Gesicht in seinen Augen schimmerte. Eines, das sie vergessen hatte. Eines, das sie vermisste.
Doch bevor sie einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, war der Wendigo bei ihr.
Abwehrend hob sie die Hände, um die Zähne, die schräg wie Zaunpfähle aus der fleischigen, jetzt blutig unförmigen Schnauze herausragten, von ihrer Kehle fernzuhalten. Sie hätte den Kopf des Wendigo berühren müssen, doch sie tat es nicht. Sie musste an zwei Magnete denken, deren gleiche Pole einander gar nicht berühren können, selbst dann nicht, wenn man sie ganz fest gegeneinander zu pressen versucht. Dies hier war so ähnlich. Die Haut und das Fell des Wendigo wichen vor ihrer Berührung zurück.
Sie spürte, wie der Wendigo förmlich von ihr abprallte .
Scarlet konnte es nicht sehen, aber sie fühlte es so deutlich wie ihren eigenen furchtsamen Herzschlag. Sie spürte, dass dort, wo eigentlich eine Berührung mit Muskeln und Schädel und Knochen hätte stattfinden sollen, nur ein Ausweichen war und eine Leere, die mit Schmerzen erfüllt war.
Was geschieht hier?, fragte sie sich verzweifelt.
Das eisberstende Heulen nahm kein Ende.
Die Augen des Wendigo waren verschwunden und der Schädel nur mehr eine unförmige Masse.
»Was ist das?«, flüsterte die junge Frau.
»Etwas schützt Sie, Miss Scarlet.«
»Sie sind wieder auf den Beinen?«
»Nein, das sieht nur so aus.«
Scarlet musste widerwillig lächeln.
Der Wendigo krümmte sich auf dem Boden, und dann löste sich sein Körper auf in eine Wolke aus Schnee. Ziellos wirbelte der schmutzige Schnee herum, und dann fielen die dicken Flocken auf den Boden und schmolzen auf dem grauen Beton, einfach so.
»Er konnte Sie nicht berühren«, stellte ich fest.
Scarlet starrte noch immer auf die Stelle, an der sich der
Wendigo aufgelöst hatte.
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