Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
sich aus Schnee und Sturm in eine Kreatur aus Fleisch und Blut und dichtem Fell verwandelt hatte. Anders als aus ihrem Versteck in der Dornenhecke erkannte sie nun, wie wölfisch der Wendigo wirklich aussah. Dabei erinnerten nicht nur die äußerst lange Schnauze und die spitzen Zähne, die im Licht der Neon röhren blitzten, nicht nur die aufgestellten Ohren und das tiefe, hungrige Knurren, das der Kehle der Kreatur entsprang, sie an einen Wolf. Nein, es war der wilde unzähmbare Ausdruck in den schneeweißen bösen Augen, der sie an einen Wolf denken ließ. Es lagen Instinkt und Tücke in diesen wei ßen Augen, die sie fixierten. Es war ein Wolfswesen, das nur wenig Menschliches in sich trug. Etwas anderes, Uraltes, das schwer zu fassen, aber aus Menschlichem entstanden war, schwamm in diesen Augen wie der Himmel in dem See, an den sie denken musste.
»Treten Sie hinter mich, Miss Scarlet.«
»Aber …«
»Oh, nun machen Sie schon schnell!«
Der Wendigo stand auf den Hinterbeinen und sah aus wie ein missgestalteter Mensch, der sich in einen großen Wolf aus Eis und Schnee verwandelt hatte. Da waren ganz unterschiedliche Musterungen in seinem Fell, als bestünde es aus vielen verschiedenen Arten von Haaren. Selbst die Gliedmaßen schienen irgendwie nicht richtig zu sein. Er wirkte schräg, auf eine Art und Weise falsch, die einem mit Sicherheit Kopfschmerzen bereiten würde, wenn man ihn länger betrachten müsste.
Und plötzlich bewegte er sich, unglaublich schnell und geschmeidig. Er sprang und stieß dabei einen markerschütternden Schrei aus. Er flog förmlich durch den Gang, und während er dies tat, erkannte Scarlet, was so falsch an ihm war.
Der Wendigo sah aus, als bestünde er aus vielen unterschiedlichen Teilen.
»Miss Atwood!«, rief Scarlet. »Passen Sie auf!«
» Mistress! «, verbesserte ich sie. »Mistress Atwood!«
Da passierte es.
Mit einer Bewegung, die den Wendigo nicht die geringste Mühe zu kosten schien, fegte er mich beiseite. Ich prallte gegen eine Wand und spürte, wie mir die Luft entwich. Die Welt vor meinen Augen flimmerte.
Scarlet schrie auf.
Es war ein Schrei, der gellend laut durch den Tunnel des Untergrunds hallte, ein Schrei, der viel mehr ausdrückte als nur Entsetzen. Es steckte eine Erinnerung in diesem Schrei, eine Erinnerung an Bilder, die noch lange nicht Vergangenheit waren, ein Schrei voller Hilflosigkeit und Reue und allertiefstem und von Herzen kommendem Verlust.
Scarlet spürte es, als sie den Atem der Kreatur roch. Es war, als brächte der Atem ihr genau diejenige Erinnerung zurück, die sie nie, nie mehr besitzen wollte. Alles in ihr sträubte sich gegen die Bilder, die mit dem fauligen Atem der Bestie zu ihr kamen.
Die Bilder verschwammen zu dunklen Farben, die wehtaten. Ein Meer aus Finsternis und Schmerz und Trauer, Verzweiflung und Furcht. Alles, was sie zu sehen glaubte, floss ihr durchs Hirn und war fort, ehe sie verstand, was da vor sich gegangen war.
Was blieb, war der Wendigo.
Er kam auf sie zu, duckte sich, bereit zum nächsten Sprung.
Scarlet wich nach hinten zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Schneeflocken stoben um den Wendigo herum durch den Gang, da er sich ihr näherte. Sie wehten ihm aus dem Fell und wurden augenblicklich wieder vom Fell verschluckt.
»Was willst du von mir?«, schrie Scarlet ihn an. Sie wusste, dass die Kreatur ihr nicht antworten würde, aber dies war die Frage, die am allerlautesten in ihr aufbegehrte. »Was willst du von mir?«
Der Wendigo hielt kurz inne, nahm Witterung auf. Die schneeweißen Augen betrachteten die junge Frau, als sei sie eine überaus seltene Beute, und dann, ohne Vorwarnung, sprang er auf sie zu. Seine Krallen wurden in Bruchteilen eines Lidschlags länger, er bleckte die Zähne, und die Augen wurden zu schmalen Schlitzen voller Arglist und tiefster Heimtücke. Die weißen Haare stellten sich auf, und Schneeflocken stoben auf und davon.
Scarlet wusste, dass sie keine Chance gegen dieses Wesen hatte.
In nur wenigen Sekunden würde sie tot sein.
Sie wollte dem Angriff ausweichen und stürzte unsanft zu Boden, wo sie wie gelähmt liegen blieb und den weißen Schatten auf sich zufliegen sah. Es würde wehtun, was immer er auch mit ihr vorhatte. Ja, sie wusste, dass es wehtun würde.
Sie sah seine Zähne, die ihr auf einmal ganz nah waren.
Es würde rasend schnell gehen.
Immerhin das.
Sie kniff die Augen zusammen.
Da zerschnitt ein Jaulen die Nacht. Alle Pein und Abscheu
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