Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
erinnerte sich an seinen Blick, als der Schatten des Wendigo sein Gesicht mit dunkler Farbe übergossen hatte. Sie erinnerte sich daran, sich selbst in seinen Augen erblickt zu haben. Kurz nur, ja, doch da war ihr Spiegelbild gewesen.
»Es ist vorbei«, sagte ich leise zu ihr.
Scarlet weinte.
Sie stand noch immer regungslos da, die rechte Gesichtshälfte gegen die Tür gepresst. Vielleicht würde sie doch noch etwas hören, riechen, wahrnehmen. Nein, Jake war fort.
Sie spürte, wie ihr Herz raste, und sie wusste nicht einmal, warum es das tat. Sie war doch nicht verliebt, nein, dafür war alles viel zu kompliziert. Sie kannte Jake kaum, und sie wusste, dass sie Keanu geliebt hatte. Sie liebte ihn noch immer. Nur, er war tot. Sie wusste es wieder. Und Jake Sawyer … Er hatte sie nie verlassen, bisher.
Das Holz war ganz warm.
Sie wollte es nicht loslassen.
Nur diese dünne Tür trennte sie von Jake Sawyer. Er war dahinter, irgendwo in der uralten Metropole von Gotham. Er hatte sie doch tatsächlich durch die Tür gestoßen und war dortgeblieben.
Nein!
Sie würde die Tür nicht loslassen.
Nein, nicht hier, nicht heute, niemals mehr.
Sie wollte allzeit so stehen bleiben und warten, bis alles wieder anders würde. Eines Tages, das wusste sie, würde sich diese Tür wieder öffnen. Eines Tages würde er wieder vor ihr stehen, unversehrt, und …
Nein.
NEIN, NEIN, NEIN!
Sie durfte sich nichts vormachen. Sie hatte den Schatten gesehen, der hinter ihm aufgetaucht war. Es war ein Wendigo gewesen, riesengroß und mächtig. Wie sollte Jake da entkommen, sich zur Wehr setzen, überleben?
So viele Fragen.
Ach, so viele …
Und keine Antworten.
Nein, nicht eine einzige.
Nur Erinnerungen, die sie wieder hatte und doch nicht haben wollte.
»Warum?« Sie sah mich an. »Mistress Atwood, warum?«
Ich reichte ihr die Hand.
Sie starrte lange Zeit darauf, ohne sich zu bewegen.
»Warum?«, wiederholte sie. Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Ich schüttelte den Kopf.
»Er ist tot, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht.«
Scarlet Hawthorne ergriff meine Hand. Behutsam zog ich sie von der Tür fort. Jener Tür, die mitten im Raum stand und nicht mehr das Portal war, durch das wir eben noch gegangen waren. Sie war jetzt eine Tür mit Rahmen, die nirgendwo hinführte. Die einfach nur da war.
Dann sank Scarlet in die Knie. Sie schrie so laut, dass ich zusammenzuckte.
»Warum?«, schrie sie.
Immer und immer wieder.
»Warum, warum, warum?« Unendlich langsam zog ich sie zu mir, dann umarmte ich sie.
»Warum kann ich keine Musik mehr hören?«, schluchzte sie. »Warum nur?«
Nur eine einzige Antwort konnte ich ihr geben: »Ich weiß es nicht. Es tut mir leid.«
Dann verschwand auch die Tür.
Sie löste sich in Luft auf, wurde zuerst unscharf an den Rändern, dann war sie fort.
Scarlet starrte die Stelle an, an der sie gerade noch gewesen war, und Tränen machten ihr das Sprechen unmöglich. Es war, als drängten all die Gefühle, die in ihr geruht hatten, nun an die Oberfläche. Sie lag in meinen Armen und weinte und zitterte.
Nach nahezu einer halben Stunde war sie wieder ansprech bar. Ich hatte sie die ganze Zeit über fest in den Armen gehalten und ihrem Schluchzen und ihrem armen kranken Herzen gelauscht.
Erst dann schaute sie sich um.
Fragte benommen: »Wo sind wir?«
Ich ließ ihre Blicke ein wenig weiter durch die Wohnung
gleiten. Sie sollte es sehen, alles. Die Unordnung, das Motorrad, die Bilder, das Licht der Nacht, das in Streifen durch die hohen Fenster einfiel. Die wenigen Möbel, so karg und doch so sehr er selbst.
»Wir sind hier bei ihm«, sagte sie schließlich, sie hatte es von ganz allein herausgefunden.
»Ja, dies ist Jakes Wohnung.«
»Wo liegt sie?«
Sie ging zum Fenster.
Draußen sah sie eine Straße, die ihr bekannt vorkam. Schnee fiel noch immer vom Himmel und deckte die Stadt mit Weiß und Winter zu.
»Das ist die Bedford Street«, sagte ich. »Jake wohnt im Twin Peaks.«
»Das ist das Greenwich Village«, stellte Scarlet fest. Die Nacht schwamm in ihren Augen. »Warum sind wir hier?«
»Jake hat uns an einen ganz bestimmten Ort gewünscht«, versuchte ich zu erklären. »Dies hier ist Kansas.« Ich setzte mich in einen Sessel. »Niemand kennt Jake Sawyer. Niemand weiß, wo er lebt. Niemand wird uns hier suchen.«
Scarlet konnte es nicht fassen.
»Hier sind wir vorerst sicher.«
Sie ging durch die riesige Studiowohnung. Die Wände waren Mauern, rote Steine mit weißen
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