Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
sich vermehrten. Taten sie es durch Berührungen? Kamen die Dreamings im Schlaf über einen, und man merkte gar nicht erst, dass man zum Schlafwandler wurde? Die Tatsache jedenfalls, dass der Kojote sich alle Mühe gegeben hatte, jedwede Berührung mit den Kreaturen zu vermeiden, gab ihr zu denken. Sie hatte gesehen, was den Pagen widerfahren war.
Nein, man sollte sich auf gar keinen Fall von ihnen berühren lassen.
Nie und nimmer.
»Sie nehmen einem die Träume«, murmelte Scarlet plötzlich. Es war ein so spontan geborener Gedanke, dass man ihm einfach Glauben schenken musste. Er war plötzlich da, wie manche Gedanken eben plötzlich auftauchen. »Sie stehlen einem die Träume.«
»Das ist es!«, rief ich aus. »Wer keine Träume mehr hat, der erstarrt zu Eis.«
»Niemand kann ohne Träume leben. Ob sie das wirklich tun?«
»Kann sein, kann sein.«
Scarlet stand bangen Herzens am Rande des Grabens und spähte in den Saal, wo die Gefechte tobten.
Ein Wendigo kämpfte gegen eine Horde Schlafwandler an, denen er tödliche Wunden zugefügt hatte. Trotzdem kämpften die Wesen weiter. Einigen von ihnen fehlten Gliedma ßen, anderen hing ein Arm nur noch an einigen blutigen Sehnen am Torso.
Sie hörten nicht auf, die Wendigo zu attackieren. Sie waren Marionetten. Erst wenn ein Schlafwandler bewegungsunfähig war, blieb er zuckend auf dem Boden liegen und wand sich wie ein Insekt, das man zu zertreten versucht hat. Die weißen Augen leuchteten auf unnatürliche Weise.
Und wer sich in seine Nähe wagte, der wurde trotzdem angegriffen.
Es war ein einziges Durcheinander von Leibern, Blut und Schneegestöber. Es schien kein Ende zu nehmen.
Jake lief geduckt zu der Stelle, an der Scarlet den Säbel aus dem Gehstock hatte niederfallen sehen.
Er wich den Schlafwandlern aus, so gut es ging. Und er mied die Wendigo. Er sprang über eine Stuhlreihe, und dann stürzte er, tauchte zwischen den Sitzen ab.
Dann, zwei Reihen weiter, tauchte er wieder auf.
Scarlet schrie auf, als ein Schlafwandler sich ihm näherte.
Jake drehte sich blitzschnell um und duckte sich zur Seite hin weg, kroch unter den Sitzen hindurch und kam an anderer Stelle wieder zum Vorschein. Ein Wendigo beschäftigte sich mit dem Schlafwandler, riss ihm die linke Hälfte des Gesichts weg. Anschließend grub er seine Zähne in die Brust des Schlafwandlers, dessen zu Klauen geformte Finger am Fell der Schneekreatur zerrten.
»Wie wissen sie, wer ein Schlafwandler ist und wer nicht?«, fragte Scarlet auf einmal und sah mich ängstlich an.
»Die Wendigo?«
»Ja.«
»Sie kennen den Unterschied nicht«, antwortete ich ihr. »Sie stürzen sich auf alles, was kein Wendigo ist.«
Die einfachste Vorgehensweise, wirkungsvoll und unkompliziert.
Scarlet bangte um Jake. Sie wollte ihn nicht auch verlieren, wie sie …
Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken.
Nein, nein, nein!
Jake würde nicht sterben. Jake war geschickt. Jake lief zwischen den Stuhlreihen hindurch, mied jede Gestalt, die sich außer ihm dort herumtrieb, und endlich hielt er den Säbel in den Händen. Er machte sich ein Bild von der Lage, erkannte, dass ihm der direkte Rückweg durch kämpfende und sterbende Kreaturen verwehrt war, und dann sprintete er zum anderen Ende des Saals, wo er vor einer Wand stehen blieb.
Er schaute nach oben.
Efeu erstreckte sich wie ein erstarrtes Meer aus Ranken
und Blättern bis hinauf zur Decke. Jake prüfte die Festigkeit der Pflanzen.
Scarlet bat inständig darum, dass ihm jemand zu Hilfe eilte. Zwischen Jake und dem Orchestergraben wimmelte es nur so von wilden kämpfenden Körpern. Diejenigen Wendigo, die Schlafwandler töteten, ließen ein schrilles Heulen des Triumphs vernehmen. Die Schlafwandler indes, die Wendigo in sterbende stöbernde Schneewehen verwandelten, stießen keinen einzigen Laut aus.
Wie sollte Jake nur zurückkommen?
Scarlet wünschte sich nichts inständiger, als dass Jake wohlbehalten bei ihr im Orchestergraben ankommen würde.
Dann sah sie, wie eine Ranke des Efeus sich von der Wand löste und in Jakes Richtung streckte. Es sah aus, als würde sie ihn einladen, ihr zu folgen. Die Ranke schlängelte sich wie ein Tier vor seinem Gesicht.
Danke , wisperte Scarlet insgeheim. Danke, danke, danke. Tausend Dank .
Die Pflanzen halfen ihm.
Jake, der nicht zu wissen schien, wie ihm geschah, steckte sich den Säbel mit dem silbernen Schakalknauf in den Gürtel und begann mit dem Aufstieg, ohne Zeit zu verlieren. Die Ranke, die sich
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