Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
kam es einem so vor, als müsse man gar nicht erst in die uralte Metropole abtauchen, um die seltsamen Dinge zu erleben, die man selbst hier oben so unverhüllt an jeder Ecke präsentiert bekam.
Scarlet lief staunend neben mir her. Sie hatte sich den Flickenmantel eng um den Hals gezogen. Darüber hinaus trug sie einen Schal, den sie an Jakes Garderobe hatte mitgehen lassen. Ab und zu roch sie daran, das war alles. Ich hielt den Mund.
»Wer ist sie?«, fragte Scarlet, als wir die Straße überquerten.
Geschminkte Damen in Chinaseide standen schon um diese Uhrzeit in den Restaurants.
»Eigentlich heißt sie Guan Yin. Sie hat sich verwandelt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist, wie immer, eine alte Geschichte, Miss Scarlet.«
Miao Shan war eine Prinzessin gewesen, die Tochter eines Despoten. Sie war die letzte seiner drei Töchter, die verheiratet werden sollte. König Zhuang suchte ihr einen Ehemann aus, doch Miao Shan widersetzte sich ihm. Sie lehnte die Heirat ab und verkündete ihrem Vater und dem Hofstaat, dass sie fortan in einem buddhistischen Kloster leben wolle. Der König, der die Natur der Frauen kannte, gab nach einigem Zögern nach und ließ sie ins Kloster gehen. Der Herrin des Klosters aber trug er auf, er solle ihr das Leben zur Hölle machen.
»So bekam sie die schwersten Arbeiten zugewiesen, doch die Götter hatten Mitleid mit ihr und halfen ihr, indem sie ihr Tiere schickten, die ihr beistanden«.
Als der König davon erfuhr, war er erzürnt. Er ließ den Wald um das Kloster herum in Brand stecken, um die Tiere zu strafen. Doch die Götter schickten Regen, um das Feuer zu löschen. Daraufhin bekam Miao Shan neue Arbeiten aufgebürdet, doch die Götter erschienen den Nonnen und befahlen ihnen, der jungen Novizin zu helfen. Als der König davon erfuhr, war er so erzürnt, dass er Soldaten zum Kloster schickte, die es bis auf die Grundmauern abbrennen sollten.
»Doch wieder schickten die Götter Regen, und abermals wurde das Feuer gelöscht.«
Der König geriet so sehr in Wut, dass er seine Tochter am nächsten Tage hinrichten lassen wollte. Der Tod würde eine gerechte Strafe für ihren Ungehorsam sein. Doch auch hier hatten die Götter Erbarmen. Das Schwert, mit welchem der Scharfrichter sie köpfen wollte, brach entzwei, und die Lanze,
die er ihr in den Leib rammen wollte, zersprang in viele Stücke. Schließlich erdrosselte der Henker sie mit einem Schal aus Seide. Ihre Seele verließ den Körper. Als das geschehen war, da kam ein Tiger an der Hinrichtungsstelle vorbei und nahm den Körper der toten Prinzessin mit in den Dschungel.
»Er benetzte den Leib mit dem Elixier der Unsterblichkeit, damit er nicht zerfiel, solange die Seele sich auf Wanderschaft befand.«
»Was geschah mit ihrer Seele?«, wollte Scarlet wissen.
»Miao Shan fand sich an einem eisig kalten Ort wieder.«
Ein Geist erzählte ihr, dass dies die Hölle sei. Sie habe nichts zu befürchten, denn der Herr des Lichts, dem die Hölle unterstünde, habe von ihrer Helligkeit gehört. Und alles Licht, das nicht von des Träumers Hand erschaffen, sondern im Herzen eines Menschen geboren war, interessierte ihn.
»So traf sie den Herrn des Lichts, der ein Wesen von betörender Schönheit war.«
»Ist das der Lichtlord, von dem Sie annahmen, er sei der Kojote?«
»Möglich.«
Scarlet ging nachdenklich neben mir her. Dann blieb sie stehen. »Ein eisiger Ort. Das, was ich durch die Tür im Paramount-Theater gesehen habe, das war auch ein eisiger Ort.«
»Vielleicht ein Zufall.«
»Vielleicht auch nicht.«
Wir gingen weiter.
»Miao Shans Licht«, fuhr ich fort, »verwandelte die Hölle jedenfalls bald in ein Paradies. Grüne Pflanzen wuchsen dort, und alles war schön und herrlich.«
Doch der träumende Jade-Kaiser des Himmels hörte von seinen Boten, dass die Ordnung sich veränderte. So schickte er seine Diener aus, geflügelte Boten mit Bildern in den Gesichtern, auf dass sie die Seele Miao Shans wieder in ihren Körper zurückbrachten. Der Körper, den der Tiger geborgen hatte, lebte noch immer, und als die Seele wieder in ihm war, da war Miao Shan wiedergeboren. Sie ging nach Süden und lebte auf einer Insel namens Xiang Shan.
»Dort blieb sie neun Jahre lang.«
»Der träumende Jade-Kaiser des Himmels«, hakte Scarlet nach. »Klingt nach dem Träumer, von dem wir gehört haben.«
»Möglich«, sagte ich nur.
»Alles ist möglich, oder?«
»Ja.«
»Wie geht die Geschichte weiter?«
»Der Jade-Kaiser war
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