Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
er sieht gemütlich aus , sagte Buster Mandrake.
»Gemütlich.«
Gemütlich ist gut.
»Na, mir gefällt der Hut jedenfalls.« Sie sah trotzig aus, als sie das sagte, aber damit war das Thema erledigt.
Wir überquerten eine weitere Straße und betraten eine andere. Scarlet mit Hut, ich ohne.
Die verwinkelten Straßen hier waren selbst so früh am Morgen bereits angefüllt mit fernöstlichen Gerüchen und der Magie eines fernen Landes, das nun woanders war.
Wir schoben uns durch dichtes Gedränge und wildes Gewusel.
Überall waren Werbeflächen, bunt und schrill, übersät mit Schriftzeichen, die exotisch anmuteten. Man hatte wirklich das Gefühl, sich urplötzlich in einer ganz anderen Stadt zu befinden.
Es gab hier Wahrsagerbuden und Restaurants, Stehimbisse und Garküchen und Krimskramsläden. Selbst die amerikanischen Fastfood-Restaurants hatten hier chinesische Schriftzeichen. Man verstand nicht den Sinn dieser Zeichen, alles war anders, alles war fremd, alles wirkte geheimnisvoll, auch wenn es bloß die Preisliste für die Leistungen einer Wäscherei war. Man war ein Fremder in einer Stadt, die man eigentlich zu kennen glaubte. Es wurde eine andere Sprache gesprochen, eine wilde Mischung aus Chinesisch und heimischen Dialekten, eine Sprache, die sich in den letzten hundert Jahren entwickelt hatte.
»Chinadowntown ist nicht über die Sidings zu erreichen«, erklärte ich Scarlet. »Wir müssen einen anderen Weg nehmen.«
Seltsame Gestalten lungerten an den Ecken herum und beobachteten mit ausdruckslosen Mienen jeden, der die Stra ße entlangging. Sie trugen feine Anzüge und feine Mäntel, alles schwarz in schwarz. Einige von ihnen trugen sogar Sonnenbrillen, und das, obwohl der Himmel düster und wolkenverhangen war.
»Das sind Mitglieder der Tongs«, sagte ich leise. »Geheime Bruderschaften, denen die Regierung in diesem Viertel obliegt.«
»Was tun sie?«
»Das weiß niemand so genau«, antwortete ich. »Sie verwalten das Viertel. Sie pflegen Kontakte, die manchmal ein wenig kriminell sind. Man weiß nicht genau, wie mächtig sie
sind, aber man weiß, dass sie mächtig sind. Es wird gemunkelt, dass selbst der Duke von Manna-hata sich mit ihnen arrangieren muss, will er im Rathaus bleiben.«
Scarlet nahm das zur Kenntnis und unterließ es, die Tongs offen anzusehen.
Wir gingen weiter.
Beeilten uns.
Buster Mandrake betrachtete voller Argwohn die vielen kleinen Garstuben, die Hunde, Katzen und Raben frisch zubereiteten. Die Tiere saßen in kleinen Käfigen, und die Kunden konnten sich ihr Mahl frisch zubereiten lassen. Die Tiere wurden dann aus den Käfigen geholt, erschlagen oder erdolcht, gehäutet und anschließend in einem Topf gegart oder in der Pfanne gebraten.
Ich hasse diese Gegend , murmelte Buster ängstlich. An manche Sitten kann ich mich nicht gewöhnen. Er kroch mir in den Kragen des Mantels, und nur zwei Äuglein lugten aus dem Schatten heraus.
»Können Sie die anderen Tiere verstehen?«, fragte Scarlet.
Er nickte nur. Sie leiden. Sie haben Angst. Wenn es eine Hölle gibt, dann ist sie hier.
Scarlet sah ihn traurig an.
Ich streichelte ihm den Kopf. »Nicht hinhören«, riet ich ihm.
Das war alles.
Die Straßen wurden schnell enger.
Die Gebäude selbst sahen hier so aus, als seien sie aus einem anderen Land eingewandert.
Häuser im Pagodenstil mit Phoenix und Drache als Schmuckelemente waren an jeder Ecke auszumachen. Nur hier und da lugten Schilder und Fenster aus den Bauten,
die nicht dorthin zu gehören schienen. Starbucks , die Golden Pacific National Bank , ein Virgin Shop . Musik wurde in den Läden gespielt, fernöstliche Klänge, die wie Schmetterlinge im Schnee trieben.
»Warum kann ich mich an nichts von alldem erinnern, obwohl ich so lange Zeit hier gelebt habe?«, fragte sich Scarlet, als sie all das sah. Greenwich Village war nicht weit von hier entfernt.
»Sie haben es vergessen, das ist ganz normal. Wenn man von klein auf in der uralten Metropole aufwächst, dann verschwimmen die Zeiten ein wenig. Man erinnert sich nicht mehr an alles, wenn man dort aufgewachsen ist. Und das ist auch gut so. Mit Erwachsenen verhält es sich anders.«
Scarlet überlegte kurz.
Dann fragte sie: »Wohin gehen wir eigentlich?«
An den Straßenecken sah man jetzt Fischstände, selbst bei diesem Wetter. Die Verkäufer warteten vermummt mit festen Handschuhen und Mützen hinter ihren Ständen. Der Fischgeruch hing in der Luft, und es kam einem vor, als stünde man direkt am
Weitere Kostenlose Bücher