Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
zornig.«
Während Miao Shan auf der Insel lebte, bestrafte der träumende Jade-Kaiser des Himmels den König. Er goss die Beulenpest über seinem Königreich aus, und Zhuang erkrankte unheilbar daran. Und weil er der König war und sein Volk wie er, ging es ihnen allen schlecht.
»Sie alle mussten für die Freveltat ihres Königs zahlen, so wollte es der träumende Jade-Kaiser des Himmels.«
Buster Mandrake schaute sich wachsam um.
»Als Miao Shan vom Leid ihres Vaters hörte, da brach sie nach Hause auf.«
Sie überquerte Meere, durchquerte Länder, doch sie kam nie im Reich ihres Vaters an.
Der träumende Jade-Kaiser des Himmels wollte nicht, dass sie ihren Vater erlöste. So litt der König an seiner Krankheit,
die ihn nur marterte und nicht sterben ließ, so sehr er es sich auch wünschte, und seine Tochter wurde älter und älter. Erneut traf sie auf den Herrn des Lichts, der in menschlicher Gestalt auf Erden wandelte. Sie bat ihn um Hilfe, und er gewährte sie ihr.
»Er gab ihr einen Rat.«
»Was hat sie getan?«
»Sie hat sich selbst geopfert.«
Sie bat den Herrn des Lichts, ihr zu helfen. Und so hackte er ihr beide Hände ab und schälte auch ihre Augen aus den Höhlen heraus. Blind wie sie war, verwandelte Miao Shan die blutigen Hände und Augen in ein Heilmittel, das ein Falke zum Palast des Königs brachte.
»Das war das Schicksal, das sie auf sich genommen hat.«
»Wie schrecklich.«
»Wie gesagt, es ist eben eine alte Geschichte. Und alte Geschichten enden zuweilen genau so.«
»So?«
»Nun ja, diese hier endet eigentlich besser.«
»Wie?«
»Zhuang wurde geheilt.«
Der Falke brachte ihn zu Miao Shan. Und als er sah, dass seine Tochter, der er so viel Böses angetan hatte, sich selbst aufgegeben hatte, um ihn zu erlösen, da sank er auf die Knie.
»Der Herr des Lichts nahm ihn mit in die Hölle, die ein Paradies war.«
»Und Miao Shan?«
»Sie erstrahlte und wurde eine wahrhaftige Göttin. Ihr alter Name fiel von ihr ab, und sie hieß fortan Guan Yin.« Ich deutete auf eine Statue, die zwischen zwei Säulen eines nahen Gebäudes stand. Es war eine hübsche Frau, die ein Diadem trug
und grüne Gewänder voller Perlenstickereien. »Das ist Guan Yin. Die Göttin des Mitleids. Sie wird noch heute verehrt.«
Scarlet betrachtete die Statue, die aus Holz war.
»Was passierte dann?«
»Lange Zeit«, fuhr ich fort, »lebte sie in ihrer Heimat, doch als die Welt sich veränderte und so viele ihres Volkes in ein fremdes Land zogen, da schloss sie sich ihnen an, weil sie glaubte, dass sie in der Fremde auf ihren Schutz angewiesen seien.«
So kam sie hierher.
Sie reiste mit den allerersten Chinesen in den Fünfzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts hier ein. Viele ihrer Landsleute kamen nach Amerika, weil sie sich vom Goldrausch in Kalifornien schnellen Reichtum und Wohlstand erhofften. Viele von ihnen wurden zu Wanderarbeitern, die im Eisenbahnbau tätig waren.
»Die wenigen Chinesen, die sich fest in New York ansiedelten, blieben erst einmal unter sich.«
Nach und nach allerdings wuchs die Gemeinde.
Es gab die üblichen Ressentiments gegenüber Neuankömmlingen.
Den Chinesen wurde das Leben schwer gemacht, ein ganzes Jahrhundert lang. Später besserte sich die Lage.
»Die Verbotene Stadt selbst kam erst vor wenigen Jahren in die uralte Metropole von Gotham.«
»Welche Verbotene Stadt?«, fragte Scarlet.
» Die Verbotene Stadt.«
»Aus Beijing?«
»Die Stadt aus dem Reich der Mitte.« Ich nickte nur. »Sie ist jetzt hier, so viel ist sicher. Ich habe keine Ahnung, warum sie hergekommen ist. Vielleicht ist sie den Einwanderern einfach
gefolgt. Vielleicht auch dem Ruf der barmherzigen Göttin. Wie gesagt, ich kann es nicht sagen. Womöglich war sie auch einfach nur eine sehr ruhelose Stadt, die einen Tapetenwechsel brauchte.«
Scarlet blieb vor einem Schaufenster stehen. »Das ist wirklich eine seltsame Geschichte.« Sie ging näher heran und spähte hinein. »Warten Sie einen kleinen Augenblick«, forderte sie mich auf, und dann war sie verschwunden.
Nur Momente später verließ sie den Laden wieder. Sie trug jetzt einen schwarzen Hut, den sie sich bis über die Ohren gezogen hatte. »Und? Wie gefällt er Ihnen?«, wollte sie wissen.
»Er ist kleidsam«, antwortete ich.
»Kleidsam?«
»Sagte ich doch.«
»War das ein Kompliment?«
Ich zwinkerte ihr zu. »Er steht Ihnen gut, und jetzt kommen Sie.«
Scarlet suchte den Blick des Streifenschwanzmungos.
Mir gefällt der Hut,
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