Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
andere Himmelsrichtung zeigte, gleichzeitig öffneten. Sie spürte einen Sog, der von der Halle der höchsten Harmonie ausging. Die hohen dreifüßigen Weihrauchbrenner neben der Treppe zur Halle hinauf begannen zu brennen, und der Geruch ihrer Dämpfe stieg Scarlet in die Nase.
Die Spieldose stieß einen Lichtblitz aus.
Grell.
Hell.
Schnell.
Scarlet kniff die Augen zusammen.
Schwindelte.
Taumelte.
Schaute hin.
Und war auf dem Platz vor der großen Halle.
Einfach so.
War sie jetzt hier.
»Ich sagte doch, dass es ein Portal ist.«
Sie starrte mich überrascht an. »Wie ist das möglich?«
»Fragen Sie nicht mich. Ich wusste nur, dass es funktioniert.«
»Woher?«
»Sagten Sie nicht einmal, ich sähe aus wie eine weise alte Frau?«
Scarlet lächelte und schwieg.
Hoch über sich erkannte sie Felsgestein. Es war eine Höhle, und sie war jetzt mitten in der Verbotenen Stadt. Chinadowntown, sozusagen. Irgendwo noch weiter oben dröhnte ein Zug durch die Dunkelheit.
»Wir befinden uns tief unterhalb der Subway. Keine Angst, die Decke hält.«
Sie konnte den Blick trotzdem nicht von der hohen Decke abwenden. »Es ist alles so weiträumig«, murmelte sie. Man sah keine Wände, zu keiner Seite hin. Sie mochten in den Schatten liegen oder so weit entfernt sein, dass das Auge sie nicht wahrnehmen konnte.
»Chinadowntown ist ein Ort, um den man gewöhnlich einen Bogen macht. Es gibt Geschichten, die von Wanderern berichten, die …«
Scarlet hob die Hand. »Danke, die will ich jetzt nicht hören.« Sie staunte bei all dieser Größe. »Ist es nicht verboten, herzukommen?«, fragte sie.
»Warum?«
»Nun ja, die Stadt heißt so.«
»Hm«, machte ich und ließ den Namen auf der Zunge zergehen: »Die Verbotene Stadt. Ja, könnte etwas dran sein an der Sache. Das würde erklären …« Ich warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Sie wollten die Geschichten nicht hören, nicht wahr?«
»Oh, bitte!«
Sie kann manchmal recht anstrengend sein , kommentierte Bus ter Mandrake meine Aussage.
Ich ließ ihn reden.
»Gehen wir hinein?«, schlug ich vor.
»In den Palast?«
»Ja, wohin sonst?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging ich vor.
Die Treppen waren aus weißem Marmor gemeißelt. Die Weihrauchbrenner verströmten einen Duft, der einschläfernd war. Wir folgten den Stufen und gelangten zu mächtigen Säulen, hinter denen rote Vorhänge im sanften Wind wehten.
Wir traten ein.
Befanden uns in einem Saal voller Skulpturen. Sie alle waren aus Holz und stellten Tiere dar.
Kranich.
Löwe.
Drache.
Schildkröte.
Gottesanbeterin.
Schlange.
Chimäre.
Madame Shan saß in einem riesigen Stuhl und betrachtete
uns neugierig. Wir traten vor sie und verneigten uns tief, stellten uns höflich vor und nannten unser Anliegen.
Sie hörte sich das alles an und sagte kein einziges Wort währenddessen. Sie trug ein Diadem, grün und gülden, und ein grünes Gewand mit einem kunstvoll verschlungenen Mus ter, das sich fortwährend bewegte, während sie sprach.
»Ich will Euch eine Geschichte erzählen, Mistress Atwood«, sagte sie. »Denn es ist immer eine Geschichte, die Antworten bringt, nicht wahr?«
Wir blieben dort stehen, wo wir waren.
Und Madame Shan begann zu erzählen.
Ihre Stimme war weich und samtig wie die durchsichtigen Schleier, die ihr um die Arme wehten, und ihre Worte wandelten sich auf dem Gewand zu Bildern, die selbst eine Geschichte zu erzählen bereit waren.
»Es war einmal ein Kaiser der Tang-Dynastie«, begann sie. »Ming Hiang. Er litt eines Tages an Fieber, und während er noch zu schlafen glaubte, erschien ihm ein Dämon mit roten Hosen und nur einem einzigen Schuh. Durch ein Bambustor sei er in den Palast gelangt, sagte der Dämon. Auf die Frage, wer er denn sei, antwortete der Dämon: Ich bin Lug und Trug, ich atme Leere und Verzweiflung . Der Kaiser rief nach den Wachen, doch niemand hörte ihn. Sie schlafen , sagte der Dämon, denn ich habe ihnen Leere geschenkt . Der Kaiser rief nach seinen Frauen, doch der Dämon sagte: Sie sind fort, ich habe ihnen Verzweiflung gegeben . Er rief nach seinen Beratern, doch der Dämon sagte: Ich habe sie mit Lug und Trug überschüttet. Sie sind alle fort.«
Miao Shan lächelte.
Die Zeichnungen auf ihrem Gewand formten den Kaiser und den Dämon in einem güldenen Grün.
»Dann wurde der Kaiser einer zerlumpten Gestalt gewahr, die ein zerrissenes Halstuch trug und sich in seine Gemächer geschlichen hatte.«
Wer bist du? , wollte er wissen.
Die
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