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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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den Punkt.
    »Nein, das kann ich nicht.« Sie sah ihn traurig an. »Weißt du, was das für ein Gefühl ist? Sich an nichts erinnern zu können … Alles ist wie ein Geschmack, der einem noch die Zunge benetzt.« Sie steckte die Hände in die Manteltaschen. »Ich weiß nicht, ob ich einen Freund gehabt habe. Vermutlich schon. Weshalb hätte Thoreau lügen sollen? Aber ich
kann mich an kein Gesicht erinnern.« Sie schluckte. »Ist das nicht schrecklich? Es ist, als würde man innerlich sterben. Und man weiß nicht einmal, warum man stirbt. Es hat da jemanden in meinem Leben gegeben und … ich kann einfach nichts tun.«
    Jake, der neben ihr ging, wollte etwas erwidern, schwieg dann aber.
    »Eigentlich gibt es da gar nichts, worüber ich reden kann. Es ist nichts da.«
    »Du denkst an das Blut, das an deinen Händen war.«
    »Sind meine Gedanken so offensichtlich?«
    Er zuckte die Achseln.
    »Vielleicht war es sein Blut.« Sie strich sich eine Strähne des gefärbten Haars aus dem Gesicht. »War er schon lange mein Freund gewesen? Ich weiß es nicht. Warum nur haben wir uns gestritten? Keine Ahnung! Warum ist er jetzt fort? Was ist ihm zugestoßen? Er war ein Indianer, hat Thoreau gesagt. Aber ich …« Sie blieb stehen. »Ich …« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, wischte sich trotzig die Tränen aus den Augen. »Ich habe Angst, Jake.«
    »Ich weiß.«
    »Ja.«
    Sie waren eine Berührung voneinander entfernt, für einen winzigen Moment.
    »Du bist Scarlet«, sagte er dann.
    Sie blickte auf. »Und?«
    »Scarlet passt zu dir.«
    »Ach ja?«
    »Ja. Es ist ein starker Name.« Mit seinem Schal wischte er ihr die Tränen von den Wangen. »Scarlet passt zu dir. Es ist ein schöner Name. Wie ein Lied, das man gerne hört.«

    »Danke«, flüsterte sie.
    »Das war ein Kompliment.«
    »Ich weiß.«
    »Nicht, dass du dir etwas darauf einbildest.«
    »Würde ich nie tun.«
    »Gut.«
    Sie holte tief Luft.
    »Danke, Jake.«
    Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Versuchte, an gar nichts zu denken.
    Dann ging sie weiter.
    Sah sich um.
    Wie seltsam die Welt doch mit einem Mal geworden war. Und wie schnell sich die Dinge ändern konnten.
    Nein, hier draußen existierte kein Zeitalter des Wassermanns. Hier war alles so, wie es immer gewesen war.
    Kalt.
    Grau.
    Doch nein, etwas war anders.
    Die Korridore und Tunnel waren hier bunter als anderswo. Manche der endlos erscheinenden schrägen Graffiti schienen sich zu bewegen und den Passanten etwas zuzuflüstern. Musiker mit Gitarren und Trommeln standen oder hockten am Rand der Wege und am Fuße der Treppen. Rhythmen und Melodien von fernen Ländern und nächtlichen Eskapaden wehten über den Köpfen der geschäftigen Menschen durch die Tunnel. Da waren Künstler, die mit Kreide Bilder auf den schmutzigen Boden malten, und ein Clown, der mit seinen Pantomimen die mürrischsten der achtlos an ihm vorbei eilenden Geschäftigen nachmachte.
    »Hier sollte man nicht vom Weg abkommen«, warnte ich
Scarlet. »Denn da unten befindet sich noch immer das, was einst oben war.«
    »Was meinen Sie?«
    »Der Longacre Square«, sagte ich, »ist noch immer dort unten in der uralten Metropole. Nirgendwo sonst werden Sie mehr Abschaum vorfinden als dort.« Meine Worte malten ein schmutziges Bild: wilde Händler, die Pferde, missgestaltete Hufenwesen und Schlimmeres züchteten, Schmiede mit kräftigen Armen und schmutzigen Gesichtern, geschickte Zaumzeugmacher. »Manche Pfade in der uralten Metropole sind von der Art, dass sie noch immer nur mit Pferden und Kutschen zurückgelegt werden können. Die blinden Pferde wittern die Routen und die Avenues, diese Sinne sind ihnen angeboren.« Der Longacre Square ist überfüllt mit rosa Bordellen, halbseidenen Etablissements und billigen Varietés. »Nach Möglichkeit meidet man diese Gegend. Es treiben sich zu viele Halsabschneider dort herum.«
    Scarlet betrachtete den Boden, über den sie lief. Noch immer erstaunte es sie, dass es eine Stadt unter der Stadt gab. Nur ein Teil von ihr wunderte sich nicht im Geringsten darüber.
    Still ging sie auf eine Treppe zu.
    Hier und da wurde man Menschen gewahr, die eigentlich nicht in die Subway gehörten. Sie waren unnatürlich bleich, oder ihr Haar war auf seltsame Weise gefärbt und geschnitten, manche trugen feine Anzüge und Laptop-Taschen, doch etwas in ihren Gesichtern war verzerrt und unscharf. Die Schnittstellen zwischen den Welten waren hier unten flie ßend, und da normalerweise niemand dem

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