Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
je zuvor betreten hatte, wenngleich sie natürlich nicht mit Gewissheit sagen konnte, ob sie an einem Ort wie diesem wirklich noch nie zuvor gewesen war. Nach alldem, was man ihr gesagt hatte, war es immerhin gut möglich, dass sie jenseits dieser Gänge und Tunnel in der uralten Metropole gelebt hatte. Der Name der Frau, die angeblich ihre Mutter sein sollte, kam ihr wieder in den Sinn: Rima Hawthorne. Sie verband kein Gesicht mit diesem Namen, gar nichts. Sie fühlte sich leer und einsam, wenn sie versuchte, ein Bild zu erhaschen, also lenkte sie sich mit anderen Gedanken ab. Doch am Ende wirbelte alles durcheinander: die Eistoten, Roanoke Island, die Schlafwandler, die Wendigo und dann sie selbst inmitten des Geflechts aus Rätselhaftigkeit und wild erblühender Verzweiflung.
Sie schloss die Augen, spürte den Wind in ihrem Haar.
Manchmal hörte sie aus der nahen Ferne das Rattern und Rollen eines Zuges, ein andermal glaubte sie Musik zu hören.
Die Zeit schien mit einem Mal stillzustehen.
Es war ihr, als gefriere das ganze Leben zu diesem kurzen Moment.
Sie saß noch immer hinter Jake auf dem Motorrad, sie klammerte sich mit beiden Armen an seinen Oberkörper, sie roch das alte Leder seines Mantels und die Nässe in seinem Haar. Er fuhr jetzt ruhig und bedacht durch die Welt, die sich in den erdigen Eingeweiden von Manna-hata erstreckte. Die Aufregung, die noch vor einer halben Stunde sein Herz hatte pochen lassen, war von ihm gewichen. Er kannte sich hier aus, das merkte sie.
Scarlets Gedanken wurden ebenfalls ruhiger.
Sie schweiften ab, und sie fragte sich erneut, wer genau die beiden Herren gewesen waren, Mr. Fox und Mr. Wolf. Die beiden Fremden waren so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Scarlet wusste nicht, was genau sie an den beiden so beunruhigt hatte. Die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl gehabt, als würden die beiden sie kennen. Nun ja, nicht direkt kennen, aber doch sehr wohl wissen, wer sie war. Sie wurde auch jetzt das Gefühl nicht los, als seien sie bloß ihretwegen an diesem Ort gewesen. Der eine hatte sie sogar mit Namen angesprochen.
Und eine Frau hatte er erwähnt: Lady Solitaire.
Scarlet erinnerte sich an dieses Wort, das offenbar ein Name war.
Hatte sie nicht davon geträumt?
Solitaire .
War der Name einfach so in ihrem Kopf aufgetaucht? Bereits früher hatte sie an dieses Wort denken müssen, sie war sich fast sicher, und sie hatte auch da nicht gewusst, was es zu bedeuten hatte. Es war wie ein Geschmack, der einem bekannt vorkam.
Solitaire .
War dies alles Zufall?
Niemals!
Die beiden Fremden waren ihr absichtlich zu Hilfe geeilt. Sie hatten ihr zu verstehen gegeben, dass sie wussten, wer sie war, und vermutlich hatten sie mehr verheimlicht als preisgegeben.
Lady Solitaire.
Ja, dachte Scarlet, sie haben mir Hinweise gegeben.
Doch weshalb?
Was hatten die beiden mit ihr zu schaffen?
Sie seufzte.
Lehnte sich an Jake, der die Maschine in eine gewaltige Röhre hineinlenkte, einen Tunnel, dessen wirkliche Ausmaße sich in den Schatten verbargen und nur zu erahnen waren.
»Früher waren dies hier Wasserleitungen«, erklärte Jake ihr, als sie in ein neues System von Wegen und Tunneln hineinfuhren. »Die Hauptwasserleitung von New York. Doch jetzt wird hier unten Handel getrieben.«
Scarlet, die keine Ahnung hatte, wovon genau er sprach, staunte nur. Immer gewaltiger wurden die Tunnel, immer größer die Durchmesser der Röhren. Jake erklärte ihr, was es damit auf sich hatte, und es tat gut, seiner tiefen Stimme folgen zu können.
»Der Croton-Aquädukt«, rief er ihr über den knatternden Motorenlärm zu, »wurde 1866 in Betrieb genommen.«
Es ist ein weit verzweigtes System aus Röhren und Tunneln und Zisternen, das die Wasserversorgung der wachsenden Stadt sichern sollte. Es erstreckte sich vom nördlich gelegenen Croton River bis tief hinab in die Eingeweide der Stadt zwischen den Flüssen.
»Manche Leitungen verlaufen fast dreihundert Meter unter der Oberfläche.«
Scarlet erschauderte.
Für jemanden, der schon die Subway nicht mochte, war das eine erstaunliche Tiefe.
»Fünfundsechzig Kilometer weit erstrecken sich die Rohre durch die Erde.«
Sie begannen ihren Lauf am Croton River, führten über die High Bridge, die den Harlem River überspannte, bohrten
sich erneut in die feste schwarze Erde und mündeten schließlich, nach langer Reise, in zwei riesige Speicherhallen im Zentrum der Halbinsel: das York Hill Reservoir, unterhalb des
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