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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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womöglich gezogen hatte, verschwand wohl wieder. Seine Hände legten sich auf die Tischplatte. Sie waren jetzt ruhig.
    Einer der anderen Männer begann die Karten neu zu mischen. Sie einigten sich auf ein neues Spiel. Die beste Lösung.
    Scarlet wandte den Blick wieder ihrem Gegenüber zu.
    »Siehst du?«, keuchte Jake angestrengt. Sein Gesicht wirkte sehr verkrampft. Schweißperlen glänzten ihm auf der Stirn.
    Scarlet sah ihn fragend an.
    »Was hast du?«
    »Sie vertragen sich wieder. Kein Streit.« Er drückte eine Hand gegen seine Brust und rang nach Atem.
    Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Was ist mit dir los?« Sie nahm verwundert die Besorgnis in ihrer Stimme wahr.
    Jake hustete.
    Holte tief Luft.
    Trank einen Schluck Wasser.
    »Das war ich«, gestand er ihr.
    »Was?«
    »Das, was zwischen ihnen wie eine Krankheit entstanden war«, keuchte er, »ist jetzt in mir.« Er presste sich die Faust auf die Brust und atmete schwer.
    »Wie hast du das gemacht? Was genau hast du gemacht?«
    »Ich kann in eine Aura hineingreifen«, sagte er, als sei es das Einfachste der Welt, das zu tun.
    »Du kannst was ?«
    »Du hast richtig gehört. Ich kann in eine Aura greifen.«
    Scarlet wusste, was eine Aura war. Das, was einen Menschen umgab. Seine Farbe, seine Stimmung, sein Selbst, sein
Lied. Manche behaupteten, man könne die Aura sehen. Wenn sich zwei Menschen ganz nah sind, dann verbinden sich auch ihre beiden Auren. Sie werden eins, fließen ineinander über, singen ein und dasselbe Lied.
    »Ich kann die Gefühle anderer Menschen leiten.« Er verzog das Gesicht, ein wenig nur, und nippte an seinem Glas Wasser.
    Scarlet schluckte. »Auch meine Gefühle?«, fragte sie.
    Doch Jake schüttelte den Kopf. »Du müsstest es wollen. Normalerweise ist es nur bei Personen möglich, die mich nicht kennen.« Er atmete jetzt wieder leichter, immerhin. »Ich nehme das, was die Menschen streiten lässt, aus ihrer Aura heraus. Dann beruhigen sie sich wieder.«
    »Und du?«
    »Ich fühle mich einen kurzen Augenblick lang richtig elend, weil ich genau das empfinde, was sie belastet hat. Nach einer Weile dann lässt der stechende Schmerz nach.«
    »Du nimmst ihnen die Aggressionen weg?«
    »Ich kann ihnen nehmen, was immer mir beliebt«, gestand Jake. »Aber ich tue es nicht.«
    Scarlet erschauderte. Das konnte er wirklich tun?
    »Wenn ich ein Liebespaar sehe, das vor Glück förmlich zerspringt, dann kann ich auch in dessen Aura eindringen und mir nehmen, was mir gefällt. Ich kann mich am Glück des Paares berauschen, und den beiden bleibt nur die Leere, die ich zurücklasse.«
    »Auch das könntest du tun?«
    »Ja, das könnte ich.« Die nächsten Worte kamen ihm nur stockend über die Lippen. »Aber ich habe es …« Er senkte den Blick, und die Schuld, die er empfand, sah man ihm deutlich an. »Ein einziges Mal nur habe ich es getan«, gab er
zu. »Da war ich noch ein Kind. Ein dummer Junge, der nicht wusste, was er tut. Aber das ist auch nicht weiter wichtig.«
    »Immerhin kennst du deine Vergangenheit«, sagte Scarlet.
    Die beiden schwiegen.
    »Ich war noch ein Junge. Ich ging in Hell’s Kitchen zur Schule, wenn man dieses Loch als solche bezeichnen wollte. Wie auch immer, in dem Viertel, in dem wir lebten, gab es jemanden, der mich richtig hasste.« Er schilderte den Basar, der sich wie ein bunter Teppich mit den verschiedensten Mustern zwischen der Hester Street und der Exeter Street erstreckt hatte. Scarlet hatte keine Mühe, die Bilder zu sehen: Hunderte von bunten Geschäften, kleine Bäckereien, verrauchte Kneipen, Gemüse- und Obsthändler und dazwischen noch Tausende von Verkaufsständen, ein Meer aus klapprigen Buden, Männer mit Bauchläden. Rote Hydranten an den Straßenrändern. Gekrümmte Laternen. Angeboten wurde an Orten wie diesem einfach alles: frisches Gemüse, seltene Früchte, selbst gebrannte Töpferwaren und geschneiderte Kleidung, schwere Brillen, leichte Scheren, Schreibwaren und Stoffreste.
    »Warum hat er dich gehasst?«
    Jake zuckte die Achseln. »Jungs sind eben so. Er war ein wenig älter als ich, und er mochte mich nicht. Warum, war nicht wichtig. Wichtig war nur, dass es ihn gab.«
    Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er Jake angerempelt. Kraftspielereien, Hahnenkämpfe.
    »Ich habe seinen Namen nicht vergessen«, flüsterte Jake.
    Dicke Sommersprossen hatte er gehabt. Eine Mütze hatte immerzu schief auf den roten Haaren gesessen.
    »Sean.«
    »Was hat er getan?«

    »Das, was Jungs tun,

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