Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Tunnel. Diese blöden Tunnel sollten ihn am Ende das Leben kosten, aber davon wusste er noch nichts, als er jung war.«
»Was ist passiert?« Scarlet ahnte, dass die Geschichte kein gutes Ende nehmen würde.
»Das, was immer passiert, wenn es nicht passieren soll. Er verliebte sich. Das Waldorf-Astoria war gerade eröffnet worden. Und der Spatenstich für den ersten U-Bahn-Tunnel sollte erst drei Jahre später erfolgen.«
Walker William Sawyer verdiente sein überaus karges Einkommen auf den vielen Baustellen der Stadt. Er war, was viele waren: ein Gelegenheitsarbeiter. Keine Arbeit war ihm zu schwer oder zu schmutzig.
»Dann verliebte er sich.«
Ja, er verliebte sich Hals über Kopf in ein wunderschönes Mädchen. Sie lebte in einem der großen Anwesen drüben an der Upper East Side. Ihr Name war Jane Montague, und sie war wunderschön.
»So wunderschön, wie nur Elfen es sein können.«
Scarlet schaute auf. »Sie war eine Elfe?«
Er nickte. »Sie war unglaublich. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Aber in meiner Erinnerung ist sie groß und wunderschön. Sie hatte eine klare Stimme, die wunderbare Lieder sang. Ja, immerzu hat sie gesungen.«
»Aber ich dachte, dass Mistress Atwood …«
Er unterbrach sie. »Sie traf ich erst später. Viel später.«
»Sie waren verliebt«, resümierte Scarlet, »aber etwas kam dazwischen. Ist es das, was passiert ist?«
Er nickte. »Lord Montague, mein Großvater, billigte die
Liaison der jüngsten Tochter seines Hauses mit dem schmutzigen irischen Arbeiter natürlich in keiner Weise.« Er musste lächeln, still und versonnen, wie ein kleiner Junge es tun würde, wenn er an etwas Verbotenes denkt. »Doch das beeindruckte meine Mutter keineswegs. Ja, sie muss eine wirklich starke Frau gewesen sein. Eines Tages riss sie kurzerhand aus.«
Scarlet lauschte seinen Worten, die das alte Gotham heraufbeschworen. »Sie rannte einfach so davon?«
»Ja, einfach so.«
»Wann war das?«
»Anno 1898, im Herbst.«
»Sie tat es für deinen Vater.«
»Die beiden zogen in eine schäbige Wohnung in Hell’s Kitchen, wo sie ihr eigenes Leben lebten.«
Jane und Walker.
Scarlet empfand tiefste Zuneigung für die beiden.
»Es gibt nur wenige Bilder von ihnen«, erklärte Jake. »Nur schwarz-weiße Aufnahmen, auf denen sie ihre feinsten Sachen tragen.« In die Ferne gerichtet war sein Blick, auf Orte, die es längst nicht mehr gab.
Er trank einen Schluck Wasser.
»Was geschah dann?«
»Jane wurde schwanger, noch bevor der erste Schnee fiel.«
»Durch sie bist du ein Trickster?«
Er deutete auf seine Augen, die schmal waren. Man bemerkte es kaum, aber wenn man darauf achtete, dann konnte man den Blick gar nicht mehr davon abwenden. »Ist die Mutter elfisch, dann vererben sich die Augen. Ist der Vater ein Elf, dann erkennt man es an den Ohren.« Er machte eine Pause, nur kurz, doch so lange, dass die Worte, die er dann
aussprach, noch immer schleppend kamen. »Ich war ein Wechselbalg. Ein Bastard. Etwas, was es nicht geben dürfte.«
Scarlet rief sich das wenige ins Gedächtnis, was sie bisher über Trickster erfahren hatte. »Was kannst du Besonderes tun?«
Jake bedeutete ihr, näher zu kommen. »Siehst du die Männer dort drüben?«
Scarlet folgte seinem Kopfnicken.
Eine Gruppe von Männern saß in einer dunklen Ecke an einem runden Tisch beim Kartenspiel. Die Gruppe war in einen Disput darüber ausgebrochen, ob einer von ihnen betrogen hatte. Man spielte um Geld, und da wurden Betrügereien niemals toleriert. Nicht hier unten, nicht im Downtown Market.
»Pass gut auf.«
Der Disput wurde heftiger. Rüde Worte fielen, Arme und Händen vollführten beleidigende Gesten, Gesichter wurden zu Fratzen verzerrt. Starbuck, der hinter dem Tresen beschäftigt war, behielt die kleine Gruppe glücksspielender Arbeiter im Auge. Die Stimmen wurden lauter, die Worte härter und schmutziger, der Tonfall aggressiver.
Dann, ganz plötzlich, stieß einer der Männer den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, wütend um und sprang auf. Er schrie einen seiner Mitspieler laut an. Der Beschuldigte ließ die Hand unter die Tischplatte gleiten. Scarlet rechnete damit, dass der Fremde ein Messer ziehen und dass es dann zu einer Schlägerei kommen würde.
Doch nichts davon geschah.
Denn mit einem Mal setzte sich der große Mann wieder hin, einfach so, als habe er im Stillen ein Einsehen gehabt. Ganz langsam hob er den umgestürzten Stuhl auf und
nahm wieder Platz. Das Messer, das der Beschuldigte
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