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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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jedenfalls, die Menschen von der Plage zu befreien. Die Bewohner der Oase waren bereit, der schönen Fremden alle Reichtümer zu geben, die sie hatten, so viele Edelsteine, wie zwei Kamele nur zu tragen vermochten.
    »Die schöne Fremde, die in den uralten Schriften von Tutanck-Amen als die Frau in Weiß vom Roten Meer bezeichnet wird, ließ die Männer eine Mulde in den Sand graben, dann streute sie schwarzes Pulver dort hinein, grobe Körner, die nach Schwefel rochen.«

    Dann nahm sie eine Flöte und begann zu spielen, eine wundersame Melodie. Die Skorpione kamen aus allen Löchern und Verstecken gekrochen und wuselten in die Mulde hinein. Als Tausende und Abertausende von Leibern übereinanderwuselten, da fing die schöne Fremde das Sonnenlicht ein, und all die Tiere verbrannten. Ihre Leiber verendeten in dem Flammenmeer, das aus dem Stein an ihrem Stab geboren wurde, und das Dorf in der Oase war von der Plage befreit.
    »Doch dann stellte sich heraus, dass die Dorfbewohner keineswegs so wohlhabend waren, wie sie zu sein vorgegeben hatten. Sie hatten die schöne Fremde hinters Licht führen wollen, um ihre Haut zu retten.«
    »Und deswegen wurden sie bestraft.« Jake ahnte, wie die Geschichte endete. Viele Geschichten endeten wie diese. Die meisten Märchen, die er kannte, taten das.
    »Du sagst es.«
    »Was passierte?«
    »Die schöne Fremde spielte auf ihrer Flöte, und der Klang der Flöte ließ alle Dorfbewohner in einen tiefen Schlaf fallen. Nur die Kinder blieben wach. Sie begannen zu der beschwingten Melodie zu tanzen, und dann folgten sie der schönen Fremden hinaus in die Wüste.« Queequeg schaute sich um, ließ die anderen Gäste in der Taverne nie wirklich aus den Augen. »Kein einziges von ihnen wurde jemals wiedergesehen.«
    »Woher weiß man das alles?«, fragte Scarlet.
    »Eine Kindersklavin, die der Scheich den Katara-Beduinen abgekauft hatte, war an einem Pflock festgebunden. Sie konnte der Melodie nicht folgen, aber alles bezeugen.«
    Scarlet fragte sich, in was sie da nur hineingeraten war.

    »Doch das«, fuhr Queequeg ohne Pause fort, »war nicht der einzige Vorfall dieser Art. Einige Jahrhunderte später wurde das Dorf St. Cérilly im Nivernais in Frankreich von einer Rattenplage heimgesucht.«
    Die Ratten fielen im Frühjahr dort ein. Sie waren überall, in den Wänden, auf den Dachböden, in den Kellern. Sie fra ßen die Vorräte auf und selbst das Gift, das man auslegte, und sogar die Katzen fürchteten sich vor ihnen, so viele waren es. Auch hier erschien wieder eine schöne Fremde, die mit einer hölzernen Flöte die Ratten aus dem Dorf zum nahe gelegenen Fluss führte, wo sie dann alle kläglich ersoffen.
    »Und der Preis?«
    »Die gleiche Geschichte wie eben«, sagte Queequeg. »Auch in dieser Geschichte verweigerten die Dorfbewohner die Bezahlung. Und als die Menschen von St. Cérilly am nächsten Morgen erwachten, da waren auch dort alle Kinder verschwunden.« Der Mund des Tunnelstreichers stand gar nicht mehr still, so viele Geschichten sprudelten aus ihm heraus. Mysteriöse Geschichten von wirklich überallher. »Es gibt viele Erzählungen wie diese, und alle klingen sie ähnlich. Es gab auch ein kleines Städtchen im Braunschweiger Land, nahe der deutschen Stadt Hannover. Auch dort fielen die Ratten ein, auch dort erschien eine hübsche Fremde, und am Ende nahm sie alle Kinder mit. Rom wurde unter Kaiser Nero von einer Rattenfängerin besucht, und auch dort verschwanden Kinder. Immer war von einer Frau in Weiß die Rede. Einer Frau, die nie mehr als ein Geheimnis war.«
    »Und diese Frau ist jetzt hier in New York?«, hakte Jake nach.
    Er zuckte die Achseln. »Niemand weiß das mit Sicherheit. Kann sein, dass sie Lady Solitaire ist, wer weiß das schon?«

    Scarlet fragte sich, was hinter all dem stecken konnte. All die Jahre, über die hier gesprochen wurden, all die Jahre, die schon längst der Vergangenheit angehörten. Konnte es sein, dass die Dinge, die sich damals an so weit entfernten Orten zugetragen hatten, jetzt hier in New York noch eine Bedeutung hatten? Nach und nach waren die Städte größer geworden, und die Menschen hatten sich weniger Geschichten erzählt. Vielleicht hatten diese mysteriösen Vorkommnisse sich noch viel, viel öfter zugetragen? Wenn zweihundert Kinder in einem kleinen Dorf verschwinden, dann kommt dies einer Katastrophe gleich. Alle reden darüber, das Unglück nimmt einen zentralen Platz in der Geschichte des Ortes ein. Geschieht dies alles

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